Das Jahr 2017 ist glücklicherweise nicht so weit fortgeschritten, daß man nicht noch einen kurzen Rückblick auf das vergangene Jahr werfen könnte. Zeitmangel und fehlende Ruhe lassen mich als Teil meiner noch vergleichsweise jungen jährlichen Routine der Jahre 2013, 2014 und 2015 nun erst verspätet diesen Blick auf ein Ereignis im Dezember 2016 werfen, dessen jährliche Wiederkehr sich in Japan einer gewissen medialen Aufmerksamkeit erfreut: die Bekanntgabe des „Schriftzeichens des Jahres“ (kotoshi no kanji 今年の漢字). Wie bei uns jährlich das „Wort des Jahres“, von der Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) verkündet, ein sich dem Ende zuneigendes Jahr besonders charakterisieren solle, wurden seit Anfang November 2016 von der „Japanischen Gesellschaft zur Überprüfung der kanji-Fähigkeit“ (Nihon kanji nôryoku kentei kyôkai 日本能力検定協会) wieder Vorschläge für ein chinesisches Schriftzeichen eingeworben, mit dem sich das Jahr 2016 am besten beschreiben lassen sollte. Am 12. Dezember, dem „Tag des chinesischen Schriftzeichens“ (kanji no hi 漢字の日), wurde es wie gewöhnlich in einer kalligraphischen Zeremonie im Kiyomizu-dera (清水寺), einer der bekanntesten buddhistischen Sehenswürdigkeiten Kyôtos, der Öffentlichkeit vorgestellt. Nach den Jahren 2000 und 2012 fiel zum dritten Mal die Wahl mehrheitlich auf das Schriftzeichen 金 (kin – kon / kane – kana) mit seinen Bedeutungen „Geld“, „Gold“, „goldfarben“, „(Edel-)Metall“. Wie vielfältig die eingereichten Vorschläge gewesen sein müssen, zeigt jedoch deutlich, daß dieses Schriftzeichen mit nur 6.655 von insgesamt abgegebenen 153.562 Stimmen bzw. einem Stimmenanteil von 4,33 % den ersten Platz erreichte.
Begründung der Wahl:
Vor allem sportliche Leistungen ließen dieses Schriftzeichen den ersten Platz erreichen. So habe das Land wegen des unerwarteten Medaillenregens während der 31. Olympischen Sommerspiele in Rio de Janeiro gleichermaßen Erregung und Begeisterung erfaßt. Inklusive 12 „Gold“-medaillen („kin“ medaru 「金」メダル) errang Japan so viele Auszeichnungen wie nie zuvor. Mit diesem Schriftzeichen drücke sich ebenso die Erwartung an die Olympischen Sommerspiele in Tôkyô 2020 aus, bei denen sich Japan hoffentlich als „fröhliches Land“ (akarui Nippon 明るい日本) präsentieren könne. Unvergessliche sportliche Einzelleistungen, „Monumentalwerke“ („kin„jitô 「金」字塔), stützten zudem diese Wahl. Dazu gehörten:
- der vierte Olympiasieg der japanischen Ringerin Ichô Kaori 伊調馨 in Folge, nachdem sie bereits 2004, 2008 und 2012 in ihren jeweiligen Gewichtsklassen eine olympische Goldmedaille erringen konnte;
- der Eintritt des Baseballspielers Ichirô イチロー (eigentlich: Suzuki Ichirô 鈴木一朗) in den exklusiven, wenn auch inoffiziellen „3000 hit club“ mit dem 3000. Hit seiner Karriere in der Major League Baseball (MLB) während eines Spiels am 6. August 2016 für seine gegenwärtige Mannschaft, die Miami Marlins;
- der 200. Sieg für Kuroda Hiroki 黒田博樹 in seiner Laufbahn als Baseballspieler in der nordamerikanischen Major League Baseball (MLB) und für den japanischen Verband Nippon Yakyû Kikô (日本野球機構, Nippon Professional Baseball / NPB) am 23. Juli durch einen Sieg seiner Mannschaft, der Hiroshima Toyo Carp 広島東洋カープ, gegen die Hanshin Tigers 阪神タイガース. Die Hiroshima Toyo Carp ihrerseits gewannen 2016 nach 25 Jahren wieder die Central League, eine der beiden japanischen Baseballligen.
Japan wäre nicht Japan, wenn nicht auch die oft unheilvolle Verbindung von Politik und Geld wieder einen Beitrag zur Auswahl eben dieses Schriftzeichens als für das Jahr 2016 repräsentatives geleistet hätte. Am 15. Juni des Jahres mußte der damalige Gouverneur der Hauptstadtpräfektur Tôkyô, Masuzoe Yôichi 舛添要一, seinen Rücktritt erklären, nachdem er wegen einer mutmaßlich extensiven privaten Nutzung öffentlicher Gelder in die Kritik geraten war. Auch in Japan explodieren außerdem Baukosten. Mit einer Summe von knapp 600 Milliarden Yen (ca. 5 Mrd. Euro) wurde der Bau des neuen Fischmarktes von Tôkyô in Toyosu (Toyosu shijô 豊洲市場), der den alten Markt in Tsukiji (Tsukiji shijô 築地市場) ersetzen soll, um etwa 50% teurer als geplant. Wegen ungeklärter Umweltschutzfragen am neuen Standort hat die gegenwärtige Gouverneurin der Hauptstadt Koike Yuriko 小池百合子 darüber hinaus eine Verschiebung des Umzugs angeordnet, was wiederum die vorbereitenden Bauarbeiten der Olympischen Spiele 2020 – einer Stadtautobahn und des Medienzentrums – verzögert und möglicherweise Schadenersatzzahlungen an die Fischhändler, die mit einem Umzug im November 2016 rechneten, erforderlich machen könnte. Wenig überrascht, daß außerdem die Kosten für die zahlreichen Bauprojekte zur Vorbereitung der Olympischen Spiele in Japan selbst explodieren. Auch die seit Januar 2016 von der japanischen Zentralbank verfolgte „Politik der Negativzinsen“ (mainasu „kin„ri seisaku マイナス「金」利政策) trug zur Wahl dieses Schriftzeichens bei.
Natürlich fand auch das wohl weltweit beherrschendste Ereignis des Jahres 2016, die Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der Vereinigten Staaten, in der Auswahl dieses Schriftzeichens seinen Niederschlag, wenn er auch eher der Rubrik „Vermischtes“ zuzurechnen ist: das „blonde Haar“ des Präsidenten („kin„patsu 「金」髪) beeindruckte hier wohl besonders. In ähnlicher Weise zog das „gold„farbene Gewand („kin„iro no ishô 「金」色の衣装), das die Kunstfigur Pikotarô ピコ太郎 des Comedian Kosaka Daimaô 古坂大魔王 trug, als sie das Lied „PPAP – Pen-Pineapple-Apple-Pen“ (ペンパイナッポーアッポーペン), mit dem ein weltweiter Medienhype ausgelöst worden sei, zum Vortrag brachte, die Aufmerksamkeit auf sich.
Die hinteren Ränge:
Den zweiten Platz in der Auswahl des „Schriftzeichens des Jahres“ erreichte mit 4.723 Stimmen (3,08%) 選 (sen / era[bu] – e[ru] – yo[ru] – sugu[ru]), die „Wahl“. Als Begründungen dieser Wahl wurden von den Abstimmenden genannt: der US-amerikanische Präsidentschaftswahlkampf, die Entscheidung Großbritanniens, die Europäische Union zu verlassen, die Absenkung des Wahlalters in Japan von 20 auf 18 Jahre, die japanische Oberhauswahl, die neuerliche Gouverneurswahl in Tôkyô, aber auch die Auswahl („sen„kô 「選」考) Ôsumi Yoshinoris 大隅良典 zum Nobelpreisträger für Medizin und die des Tennô („sen„taku 「選」択), abdanken zu wollen.
Rang 3 belegte 変 (hen / ka[waru] – ka[eru]), der „Wandel“, die „Veränderung“, die „Wunderlichkeit“ (4619 Stimmen oder 3,01%). Der Brexit wie das Ergebnis der Präsidentschaftswahlen in den USA ließen einen tiefgreifenden Wandel erwarten. Zudem sei das landesweite Auftreten von Erdbeben und die Tatsache, daß selbst im Winter die Temperaturen nicht deutlich sanken, verwunderlich.
Es folgte auf dem 4. Platz 震 (shin / furu[u] – furu[eru]), das „Zittern“, „Schwanken“ (4606 Stimmen oder 3,0%). Die schweren Erdbeben des Jahres 2016 in den Präfekturen Kumamoto, Tottori und Fukushima, aber auch der erste Schneefall in der Kantô-Region schon im November und das Ergebnis der Wahlen in den USA, all diese Ereignisse, hätten die Menschen auf unterschiedliche Weise zittern lassen.
Mit 3746 Stimmen (2,44%) sicherte sich 驚 (kyô / odoro[ku] – odoro[kasu]), die „Überraschung“, „Verwunderung“, das „Erstaunen“, der „Schrecken“, den 5. Rang. Reich sei das Jahr 2016 an Ereignissen gewesen, die einen erstaunen ließen: bekanntgewordene Seitensprünge und Drogenprobleme japanischer Fernsehberühmtheiten, der Abdankungswunsch des Tennô, der Brexit, die Wahl Donald Trumps und die Auflösung der japanischen „Boygroup“ SMAP zum Ende des Jahres.
Der Versuch eines Ausblicks:
Es ist zu diesem frühen Zeitpunkt natürlich noch nicht absehbar, ob sich der von den bevorstehenden Olympischen Sommerspielen in Tôkyô versprochene Innovationsschub tatsächlich einstellen wird. Die Vorbedingungen des Jahres 2020 sind eben völlig andere als die des Jahres 1964, als die 18. Olympischen Sommerspiele in der japanischen Hauptstadt mit infrastrukturellen Verbesserungen wie dem Schnellzug Shinkansen, der Modernisierung des Flughafens Haneda und des Hafens von Tôkyô tatsächlich eine Zeitenwende zu symbolisieren schienen. Ohne Zweifel wird sich die Hauptstadt durch die zahlreichen Bauvorhaben nicht nur äußerlich verändern und „schicker“ werden. Ob das stets wünschenswert ist und welche Folgen dies für das Leben in dieser Stadt haben wird, ist gleichermaßen nicht vorhersagbar. Teurer wird die Stadt sicher werden. Es wäre daher gar nicht erstaunlich, wenn in einigen Jahren die Wahl des „Schriftzeichens des Jahres“ dann infolge eines Katzenjammers auf das kanji für „kostspielig“, „teuer“, „hoch“ 高 (kô / taka[i]) fiele. Die japanische Politik mit ihren teils undurchsichtigen Beziehungen in die Finanzwelt hinein dürfte zudem in den Folgejahren weiterhin nicht nur ihr eigenes Erscheinungsbild, sondern auch die jährliche Auswahl eines für den Jahreslauf repräsentativen Schriftzeichens beeinflußen. Sehen wir also mit Spannung dem 12. Dezember 2017 entgegen.