Ausstellung: Kaffee-Ersatz, Fleischextrakt, Hafer-Kakao – Das „fremde“ Japan in Kaufmannsbildern bis 1945
In einer Rezension zu einem Katalog von Kaufmannsbildern des Produkts „Liebig’s Fleisch-Extract“ heißt es, „die verschiedenen Felder der Geschichtskultur in Deutschland zwischen 1850 und 1950“ seien „von der Geschichtswissenschaft und – in geringerem Umfang – von der Geschichtsdidaktik unterschiedlich intensiv erforscht worden.“ Es könne „gelten, dass Gebiete, die mit den traditionellen hermeneutischen und exemplarischen Verfahren untersucht werden können, das meiste Interesse gefunden haben; dazu gehören Denkmäler und Festkultur, historische Vereine und Museen, Historiengemälde und Jahrestage, Schullehrpläne und ‑bücher.“ (WALTER 2004) Die große Bedeutung einer visuellen Vermittlung der Vergangenheit bzw. einer – zeitgenössischen – Welt der Gegenwart stehe dabei außer Frage. Vor der Verbreitung des Films leisteten dies vor allem die in großen Mengen verbreiteten Reklame- und Kaufmannsbilder, deren Serien um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert eine Millionenauflage erreichten und die inzwischen selbst als Teil eines „Atlas des Historischen Bildwesens“ Gegenstand der historischen Forschung im Zuge des „iconic turn“ in den Sozial- und Kulturwissenschaften geworden sind. Oft ohne Signatur, von wenig bekannten Künstlern gezeichnet, wurden diese Bilder als Gratisbeigabe für den Kauf einer Ware als Mittel der Produktbindung vom Kaufmann an die Kundschaft ausgegeben. Sie entwickelten sich sehr schnell zu Sammelgegenständen, die zu einem vergleichsweise hohen Preis gehandelt wurden. Aufgrund der Verdienstmöglichkeiten gab es auch sehr schnell Fälschungen im großen Stil. Anfangs noch weitgehend ohne Erklärungen, wurden den bildlichen Darstellungen ab etwa 1905 geradezu enzyklopädische Texte (auf der Rückseite) beigefügt. Es gab nahezu kein Produkt, das nicht über das Mittel des Kaufmannsbildes beworben wurde: Fleischextrakt, Kaffee und Kaffeeersatz, Zigaretten, Schokolade, Zwieback, Brot, Tee oder Fahrräder.
Liebigbilder:
Die möglicherweise künstlerisch hochstehendsten Kaufmannsbilder waren die Serien der 1862 gegründeten, anfangs in Antwerpen, später in London ansässigen „Fray-Bentos-Compagnie“ des Deutsch-Brasilianers Georg Giebert, der ein Verfahren zur Herstellung von Fleischextrakt durch Einkochen von Rindfleisch, das zuvor von Justus von Liebig und Max Pettenkofer entwickelt worden war, zur Produktionsreife führte. Angesichts des vergleichsweise hohen Preises durchaus kein Volksnahrungsmittel, stiegen die Verkaufszahlen von „Liebig’s Fleisch-Extract“ durch ein einzigartiges Werbekonzept stetig. Ab 1872 gab man neben anderen Werbemitteln Kaufmannsbilder in Serien heraus, die sich sehr bald, größter Beliebtheit erfreuten. Zunächst mit unterschiedlicher Bilderzahl setzte sich sehr bald die Serie mit 6 Einzelbildern und dem besonderen Liebig-Format der Karten mit einer Größe von 105 bis 110 x 70 mm durch. Bis in die 1930er Jahre hinein wurde auch immer ein Extract-Topf mit dem Liebig-Schriftzug in das Bild eingearbeitet. Noch heute stellen diese Bildserien das „Objekt der Begierde“ vieler Sammler weltweit dar. Grundlage ihrer Sammelleidenschaft sind vor allem zwei Kataloge: der Katalog der Brüder Orlando und Oscar Sanguinetti und das Kompendium Arnhold-Spielhagen.
MIELKE (1982: 47) sieht für diese Bilder eine „bedeutende Rolle in der bürgerlichen Bildung“. Durch die große Anzahl von Serien erhalte „der Liebigbildsammler (…) einen Ersatz für ein Lexikon, das zwar die Enzyklopädien von Brockhaus und Meyer nicht überflüssig macht, dennoch ein „Bilder-Lexikon“ für das mittlere Bürgertum war.“
Japan im Kaufmannsbild:
Es ist davon auszugehen, daß die Bilderserien angesichts ihres Verbreitungs- und Beliebtheitsgrades zugleich auch Ausdruck des zeit- und geistesgeschichtlichen Hintergrunds ihres Veröffentlichungszeitraums darstellen. Folgerichtig ließen sich möglicherweise, wenn auch angesichts der Abwesenheit einer vergleichenden Studie mit anderen Regionen der Welt gleichsam nur eingeschränkt – durch die Wahl der Themen und Motive, die Art der Darstellung und die Charakteristik der bildlichen und textuellen Beschreibung Aussagen zu einem europäischen „Japanbild“ in der Hochzeit der Kaufmannsbilder machen. Interessant ist in diesem Kontext, daß die Bilderserien in der Regel europaweit unverändert publiziert wurden, nur gelegentlich durch die Wahl des Sujets also nationalen Besonderheiten Rechnung getragen wurde. Abgesehen von den auch hier gezeigten Bildserien zum Russisch-Japanischen Krieg (Nichiro sensô 日露戦争, 1904/05) überwiegt in der Darstellung das „traditionelle“, exotische Japan, auch wenn das Land schon im Herausgabejahr der gezeigten ältesten Serie 1894 einen einzigartigen Industrialisierungs- und Modernisierungsprozeß durchlaufen hatte, der sich in der sogenannten „Zweiten Industriellen Revolution“ (dai-ni sangyô kakumei 第二産業革命) nach dem für Japan siegreichen Ende des 1. Chinesisch-Japanischen Krieges (Nisshin sensô 日清戦争, 1894/95) im Zeitraum zwischen 1895 und 1900 noch verstärken sollte. In der Kombination mit den durchaus detailgetreuen Darstellungen des militärischen bzw. rüstungstechnischen Know-hows Japans im Krieg scheint so ein widersprüchliches Japanbild zwischen dem kulturell filigranen Wesen dieses aus deutscher Sicht außerordentlich „fremden“ Landes einerseits und der „Kampfmaschine“ Japan andererseits zu entstehen. Die folgenden theoretischen Annahmen liegen dieser eher oberflächlichen Analyse zugrunde.
Theoretische Annahmen:
Es war der britische Schriftsteller Oscar WILDE (1891), der sich bereits 1889 visionär mit einer kulturellen Konstruktion des Fremden auseinandersetzte und so einer wissenschaftlichen Diskussion am Ende des 20. Jahrhunderts vorgriff. In dieser, in dem Sammelband „Intentions“ publizierten Kurzgeschichte „The Decay of Lying“ läßt er einen seiner Protagonisten, Vivian, Folgendes zum Gegensatz der Natur als Synonym für „Realität“, welche glücklicherweise „so unvollkommen“ sei, und der Kunst, die uns den Mangel an planvollen Absichten in der Natur, ihre merkwürdigen Roheiten, ihre außergewöhnliche Eintönigkeit, das völlig unfertige ihres Zustands“ offenbare, sagen:
„Now, do you really imagine that the Japanese people, as they are presented to us in art, have any existence? If you do, you have never understood Japanese art at all. The Japanese people are the deliberate self-conscious creation of certain individual artists. If you set a picture by Hokusai, or Hokkei, or any of the great native painters, beside a real Japanese gentleman or lady, you will see that there is not the slightest resemblance between them. (…) In fact the whole of Japan is a pure invention. There is no such country, there are no such people.“
Die Analyse der Mittel, Methoden und Absichten dieser „Kreation“ oder – um den Begriff an der gegenwärtigen wissenschaftlichen Terminologie auszurichten, der „Konstruktion“ oder „Repräsentation“ von Fremdheit – hat seit den späten 1970er Jahren nicht zuletzt durch Edward Saids Buch „Orientalismus“ wichtige Impulse erhalten. Sein durchaus kontrovers diskutierter Vorwurf, Europa habe durch die Zeichnung eines mutmaßlich femininen und rückständigen Orients den eigenen Zivilisierungsanspruch wahren wollen und somit dem Imperialismus Vorschub geleistet, hat durchaus die selbstkritische Evaluation kultureller Analysemethoden in verschiedenen Wissenschaftszweigen befördert. Wenn auch hier nicht der Ort ist, die verschiedenen Stadien der Diskussion im Rahmen des „interpretive turn“ oder des „reflexive turn“ nachzuzeichnen, scheint einführend eine kurze Klärung zentraler Termini der kulturellen Konstruktion des Fremden erforderlich.
Im Rahmen eines semiotischen Kulturbegriffs ist Kultur zunächst als „Ensemble aus kollektiven Standardisierungen, d.h. Gewohnheiten und Normen“ zu verstehen. Eine Erweiterung dieses konservativen Kulturkonzepts schreibt diesen Standards nun eine die Lebenswirklichkeit eines Kollektivs bestimmende Funktion zu. „Standardisierungen des Denkens deuten die Realität und schaffen dadurch Sinn, der durch entsprechende Standardisierungen des Handelns in eine soziale und physikalische Wirklichkeit umgesetzt wird“ (HANSEN 1999: 55). Diese Standardisierungen des Denkens wiederum werden im Kontakt mit fremden Kulturen durch Stereotype geleitet. Stereotype sind in diesem Kontext das übliche und gewöhnliche, aus Emotionalität geborene Vorurteil, „welches in einem Kollektiv über ein anderes besteht“ (HANSEN 1999: 59). Man erfährt Fremdheit auf der Grundlage der Standards der eigenen Kultur. Gegenstand dieser Untersuchung zum Image Japans ist das Stadium, in dem eine individuelle Erfahrung von Fremdheit durch Kommunikation mittels semiotischer Systeme zur kollektiven Erfahrung eines Gemeinwesens wird (TITZMANN 1999: 89). Methodisch ergeben sich hier in historischer Perspektive vielfältige Schwierigkeiten. Annahmen über die Standards der beobachtenden Kultur sind ebenso Verallgemeinerungen, wie sie es für die Standards der fremden Kultur sind. Stereotype berücksichtigen nicht die inkongruenten, widersprüchlichen Elemente einer Kultur. Es wird eine kulturelle Kohärenz angenommen, die so weder beim Subjekt noch beim Objekt im Prozeß einer kulturellen Konstruktion von Fremdheit existiert (BACHMANN-MEDICK 2006: 150). „Cultures do not hold still for their portraits.“, schreibt dazu James CLIFFORD (1986: 6).
Die Übersetzung der Erfahrungen von Begegnungen mit fremden Kulturen in „Text“ bzw. bildliche Darstellungen stellt ein weiteres Problemfeld dar, die mit dem Stichwort der „epistemologischen Kritik“ beschrieben werden kann. Untersuchungen der letzten Jahrzehnte haben gezeigt, daß historische Kulturbeschreibungen einerseits durch einen eurozentristischen Anspruch auf ein Monopol der Repräsentation und andererseits zwangsläufig durch eine Asymmetrie der Machtverhältnisse gekennzeichnet sind, da sie auf „eigenen“ semiotischen Systemen basieren müssen. Macht wird zur Kategorie kultureller Erfahrung im Zeitalter des Imperialismus (BACHMANN-MEDICK 2006: 153). Hier findet eine, dem Philosophen Ludwig Wittgenstein zugeschriebene Aussage Gültigkeit, die Grenzen der Sprache seien die Grenzen der Welt. Das Bild der Wirklichkeit wird durch die Art ihrer Beschreibung geprägt. Die Erfahrung von Fremdheit erweist sich hier als vielschichtig. Zu unterscheiden ist die auf der Grundlage eigener semiotischer Systeme und einer gewissen Vorbildung über das Fremde erfahrene Fremdheit in der Fremde, der Vermittlungsprozeß sowie die als Folge der Verarbeitung in dieser Stufe des Konstruktionsprozesses entstandener textueller Zusammenhänge durch Rezipienten bzw. Leser oder Betrachter zu berücksichtigende Erfahrung von Fremde daheim. Eine Kombination beider Typen von Fremdheitserfahrung, die in der Fremde und die daheim, ist von besonderer Bedeutung für das Gesamtbild Japans.
Literatur:
BACHMANN-MEDICK, DORIS (2006): Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek.
CLIFFORD, JAMES (1986): „Introduction. Partial Truth.“ In: Clifford, James und George E. Marcus: (Hg.): Writing Culture. The Poetics and Politics of Ethnography. Berkeley, S 1–26.
HANSEN, KLAUS P. (1999): „Erkennen, Verstehen und Beurteilen des kulturell Fremden.“ In: Lenz, Bernd et al.: Fremdheitserfahrung und Fremdheitsdarstellung in okzidentalen Kulturen. Passau, S. 55–70.
JUSSEN, Bernhard (Hg.) (2003): Liebig’s Sammelbilder. Vollständige Ausgabe der Serien 1 bis 1138. Berlin: Directmedia Publishing.
MIELKE, Heinz-Peter (1982): Vom Bilderbuch des Kleinen Mannes. über Sammelmarken, Sammelbilder und Sammelalben. Köln: Rheinland-Verlag (Niederrheinisches Freilichtmuseum Grefrath/ Kreis Viersen).
TITZMANN, MICHAEL (1999): „Aspekte der Fremdheitserfahrung. Die logisch-semiotische Konstruktion des ´Fremden‚ und des ´Selbst‚.“ In: Lenz, Bernd et al.: Fremdheitserfahrung und Fremdheitsdarstellung in okzidentalen Kulturen. Passau, S. 89–114.
WALTER, Uwe (2004): Rezension zu: Jussen, Bernhard (Hrsg.): Liebig´s Sammelbilder. Vollständige Ausgabe der Serien 1 bis 1138. Berlin 2003. In: Mailingliste „H‑Soz-u-Kult“, 31.03.2004.
WASEM, Erich (1981): Sammeln von Serienbildchen. Entwicklung und Bedeutung eines beliebten Mediums der Reklame und der Alltagskultur. Landshut: Trausnitz.
WILDE, OSCAR (1891): „The Decay of Lying.“ In: Intentions. [Der Link verweist auf den Volltext des Sammelbandes „Intentions“ in englischer Sprache im „Projekt Gutenberg“].
(2008)