Forschungsvorhaben: Zur ideologischen Entwicklung des Sozialisten Ôyama Ikuo 大山郁夫 (1880–1955):
Im Hinblick auf die ideologische Entwicklung Ôyama Ikuos – vom Wissenschaftler über den engagierten Politiker in einer der großen proletarischen Parteien der 1920er Jahre bis zu seiner nicht immer reibungslosen Annäherung an den Marxismus-Leninismus und seinem pazifistischen Engagement in der Nachkriegszeit – sind für mich zwei Themenfelder von besonderem Interesse: „Ôyama und die Rolle des Intellektuellen“ und „Ôyama und sein ethnischer Nationalismus“. Vorwiegend auf der Grundlage seiner zahlreichen Schriften möchte ich Veränderungen seines theoretischen und politischen Denkens im Laufe seines Lebens vor dem Hintergrund der politischen und sozialen Entwicklung Japans nachzeichnen. Als erste Skizze und Überblick über das Thema hier ein kleiner Text, der zukünftig noch um Fußnoten zu erweitern ist.
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Wäre das intellektuelle Leben Ôyama Ikuos in seiner Kombination von wissenschaftlicher Forschung und politischem Engagement nur eine Einzelerscheinung, bestände eigentlich keine Notwendigkeit, sich intensiver mit seinen politischen Überzeugungen und wissenschaftlichen Erkenntnissen zu beschäftigen. Dennoch erscheint uns Ôyama heute vielmehr als ein Repräsentant jener Intellektuellen der Taishô-Zeit, die sich nicht nur auf eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit allgemeinen Fragen des Staates beschränkten, sondern die zugleich versuchten, mit mehr oder weniger Erfolg diese Überzeugungen in praktische Politik umzusetzen. Insofern steht Ôyama stellvertretend für diejenigen, die diesen Weg wählten – und die politisch scheiterten.
Mit Variationen in seiner theoretischen Analyse lehnte sich Ôyamas Begrifflichkeit zu weiten Teilen an die austromarxistische Schule innerhalb der soziologischen Forschung an. Entscheidende Impulse für seine Analysen des zeitgenössischen Staates und der Gesellschaft in Japan erhielt er von Ludwig Gumplowicz (1838–1909), Gustav Ratzenhofer (1842–1904), vor allem aber von Otto Bauer (1881–1938), die ihrerseits neben den Wissenschaftlern Albion Woodbury Small (1854–1926), Lester Frank Ward (1841–1913) und Franz Oppenheimer (1864–1943) bei der Entwicklung der Soziologie für eine Erweiterung der Instrumentarien verantwortlich waren. Ausgehend von der Überzeugung, die Schriften von Karl Marx sollten nicht einer Dogmatisierung des Marxismus dienen, sondern seien eher Ausgangspunkt einer zeitgenössischen, gegenwartsbezogenen sozialwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit seinen Inhalten, wurde der Marxismus bewußt nicht einer philosophischen Exegese unterworfen, sondern als Ausdruck einer wissenschaftlichen Methode quasi neu erfunden oder besser aktualisiert:. Nicht der Marxismus als Ideologie, sondern als sozialwissenschaftliche Analysemethode trat in das Zentrum des Interesses der Wissenschaft im Dualismus von Staat und Gesellschaft. Er wurde neben dem Kapitalismus als politische Alternative in seiner variierten Erscheinungsform als demokratischer Sozialismus der dritte Weg neben dem Kommunismus in seiner austromarxistischen Interpretation.
Vereinfacht dargestellt, ging es Ôyama um die Schaffung eines Bewußtseins jener Gruppe der besitzlosen Mehrheit des japanischen Volkes, die mit dem Begriff „minshû“ (民衆) beschrieben werden kann. Bis etwa 1918 beschränkte er sich hierbei auf eine Ausweitung der politischen Rechte dieser Gruppe, wie sie durch den Satz Abraham Lincolns „government of the people, for the people by the people“ beschrieben wird, als das für ihn scheinbar politisch Erreichbare. Seine Aktivitäten standen unter der Überschrift der „Schaffung einer politischen Chancengleichheit“ (seijiteki kikai kintô-shugi 政治的機会均等主義), mit einer deutlichen Betonung des „Politischen“, und ordneten sich so der Hauptforderung der Taishô-Demokraten nach Schaffung von politischen Partizipationsmöglichkeiten – im Sinne einer Reform der Wahlgesetzgebung – unter. Zu keiner Zeit war er ein Advokat des reinen Individualismus im Sinne einer Durchsetzung von Partikularinteressen und der Selbstverwirklichung des Einzelnen. Vielmehr ging es ihm um das, was in ähnlicher Weise John F. Kennedy mehr als 40 Jahre später in seiner Antrittsrede als 35. Präsident der Vereinigten Staaten audrückte: „ask not what your country can do for you – ask what you can do for your country“. Wohlgemerkt ging es Oyama hier aber nicht um eine Bestätigung des Meiji-Staates, dessen strukturelle, demokratische Defizite im dreißigsten Jahr seiner Verfassung unter anderem in den Reisunruhen und dem Ende der „Winterzeit“ des japanischen Sozialismus ein weiteres mal deutlich zutage getreten waren, sondern um dessen Umbau im Sinne einer kulturellen Umgestaltung durch das Verantwortungsgefühl des Einzelnen als Angehörige einer bestimmten Gruppe bzw. Klasse. Schwieriger zu fassen scheint der Begriff der Kultur bei Ôyama, der nicht nur Wissenschaft und Kunst, sondern gleichberechtigt neben diesen Elementen soziale Praktiken, Rechtssysteme und moralische Aspekte als Ergebnis eines historischen, nicht natürlichen Prozesses umfaßt. Hier bezieht er sich ein weiteres Mal auf Otto Bauer und die Vertreter des Austromarxismus.
Deutlich wird in einem internationalen Kontext, daß Ôyama eine Form des „ethnischen Nationalismus“ (minzokushugi 民族主義) vertrat, den er in Abgrenzung zum reinen „Nationalismus“ oder „kokuminshugi“ (国民主義) der Herrschenden positiv konnotierte und als „insistence on liberating one or more nationalities from their statist domination of another nationality“ verstand. Er setzte in seinen theoretischen Überlegungen die Existenz eines „Nationalcharakters“ als Ausdruck „geronnener Geschichte“ voraus.
In der historischen Bewertung Ôyama Ikuos, der sich in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts immer mehr der Terminologie und Lehre des Marxismus-Leninismus annäherte, ohne völlig den Glauben an politische Veränderungen durch eine parlamentarische Arbeit aufzugeben, wird gleichermaßen Lob wie Idealismus deutlich: Er sei ein militanter bzw. revolutionärer Humanist, das Symbol des „Geistes von Waseda“ in der Nachfolge Ôkuma Shigenobus 大隈重信 (1838–1922) gewesen, der den Gegensatz des Jahres 1881 auf seine Weise und unter den Herausforderungen seiner Zeit ausgetragen habe. Letztlich steht er stellvertretend für einen Typ des politischen Intellektuellen in der Tradition eines Kôtoku Shûsui 幸徳秋水 (1871–1911) oder Katayama Sen 片山潜 (1859–1933), die an den Verhältnissen ihres Landes und der internationalen Staatengemeinschaft verzweifelten und im Verlaufe ihres politischen Lebens einen Prozeß der Radikalisierung ihrer politischen Mittel durchliefen.