Seitdem am 14. April die südlichste der vier japanischen Hauptinseln, Kyûshû, mit der Präfektur Kumamoto im Fokus von einem schweren Erdbeben getroffen wurde, dem seither in einer ununterbrochenen Kette zum Teil noch weit schwere „Nachbeben“ folgen, brodelt die Gerüchteküche in den sozialen Netzwerken. Es sind diese – nichts zuletzt psychischen – Ausnahmesituationen, die der Verbreitung von Gerüchten Vorschub leisten, wenn auch die Anonymität des Internets heutzutage dabei inzwischen förderlich sein mag. Manche Gerüchte nehmen dabei gar nicht zwingend in der betroffenen Region ihren Ausgang, sondern werden aus falschverstandenem „Spaß“ andernorts hämisch „komponiert“. Gleichwohl fühlt man sich wie auf einer Zeitreise – in den September 1923 und nach Tôkyô, als Verleumdungen, von der zeitgenössischen Presseberichterstattung flankiert, zu gewaltsamen Ausschreitungen gegen die koreanische Minderheit in der japanischen Hauptstadtregion nach dem schweren Kantô-Erdbeben vom 1. September 1923 (Kantô daishinsai, 関東大震災) führten. Ähnlich üble Gerüchte, japanisch デマ (dema, von: Demagogie), wie damals werden jetzt gerade, in dem Moment, in dem dieser kurze Beitrag entsteht, im Kontext des Kumamoto-Erdbebens über den Kurznachrichtendienst Twitter in stattlicher Zahl verbreitet:
- Koreaner hätten die Brunnen vergiftet.
- Koreaner vergewaltigten Frauen, suchten nach leeren Häusern für Plünderungen und verschleppten Japaner.
- Löwen seien aus dem Zoo ausgebrochen.
- Im Kernkraftwerk Sendai brenne es.
Inzwischen hat die Berichterstattung über diese Gerüchte auch die überregionalen Tageszeitungen des Landes erreicht, die ihrer gesellschaftlichen Verantwortung insofern gerecht werden, als sie auf mögliche verheerende Folgen der Gerüchte hinweisen, wenn gegen diese erfahrungsgemäß auch kein wirksames Kraut gewachsen zu sein scheint. Zahlreiche Studien der Gerüchteforschung belegen dies. Ich sitze gerade im Rahmen eines kleineren Forschungsprojekts zu diesen „Nachrichten des Windes (kaze no tayori, 風の頼り) an einem Aufsatz über die „Wirkung von Gerüchten“ – einer Gegenüberstellung der Gerüchtelage unmittelbar nach den Erdbeben 1923 und 2011, aber für eine längere Fußnote zu 2016 reicht es jetzt leider wohl allemal. Die Inhalte der Gerüchte unterscheiden sich im langen zeitlichen Bogen kaum, werden allenfalls den technischen Neuerungen der Zeit angepaßt bzw. von ihnen geprägt. Im japanischen Fall sind sie damals wie heute oft mit „Ausländern“, denen nahezu jede Schandtat zugetraut wird, verbunden. Kernkraftwerke gab es natürlich vor mehr als 80 Jahren noch nicht, und Brunnen sind inzwischen eben auch rar, wenn dennoch die Langlebigkeit des „Brunnenvergifter“-Motivs überrascht. Allein bei den Folgen zeigt sich ein gewisser Lernprozeß: Eine Lynchjustiz wie im Jahr 1923, bei der man real Koreaner über die Klinge springen ließ, gibt es glücklicherweise nicht mehr!