Sprotte, Maik Hendrik (2001):
Konfliktaustragung in autoritären Herrschaftssystemen – Eine historische Fallstudie zur frühsozialistischen Bewegung im Japan der Meiji-Zeit. Marburg (zugl. Diss. Universität Bonn); 408 S., ISBN: 3–8288-8323–0 (25,90 €)
Wie begrenzt war die individuelle Freiheit im politischen System Japans in der Meiji-Zeit (1868–1912), nachdem dort ein kraftvoller Modernisierungsprozeß der politischen Rahmenbedingungen und ihrer Institutionen nach über 200jähriger, selbstgewählter Abschließung vom Ausland durch politischen und militärischen Druck der Großmächte begonnen und schließlich beendet wurde? In der vorliegenden Forschungsarbeit wird diese Frage exemplarisch anhand des Umgangs der Machthaber mit der sozialistischen Bewegung Japans jener Jahre und der Wechselwirkung politischen Entscheidungshandelns mit einer zunehmenden Radikalisierung des japanischen Frühsozialismus (shoki shakaishugi undô 初期社会主義運動) analysiert. Dazu wurden japanische und andere Quellen sowie die weiterführende Sekundärliteratur bearbeitet. Der Konflikt beider „Lager“ hatte einerseits in der systemimmanenten Begrenzung staatsbürgerlicher Freiheiten und einem politischen, ideellen und konstitutionell-juristischen Ausschließlichkeitsanspruch der Machthaber auf die ungeteilte Loyalität des Staatsvolkes ihre Ursachen. Zum anderen wurde er durch eine gewisse ideologische Inflexibilität mit der Neigung zu ideologischer Sturheit und Kompromisslosigkeit durch japanische Sozialisten, mit Kôtoku Shûsui 幸徳秋水 (1871–1911) an ihrer Spitze, hervorgerufen. In den zehn Jahren von der Gründung der ersten sozialdemokratischen Partei Japans 1901 bis zu den Attentatsplanungen weniger Sozialisten gegen den Tennô, der sogenannten „Hochverratsaffäre“ der Jahre 1910/11, wählten die Herrschenden weniger sozial- als vielmehr sicherheitspolitische Maßnahmen zur Absicherung ihres Machtanspruches. Die vorliegende Untersuchung folgt der Annahme, daß die Radikalisierung des japanischen Frühsozialismus nicht nur das Ergebnis individueller ideologischer Entwicklungen seiner Führungspersönlichkeiten, sondern auch eine Reaktion auf die Strukturen und Veränderungen des politischen und ökonomischen Systems und der Schaffung eines rigiden Schutz‑, Kontroll- und Repressionsapparates waren.
zum Inhalt:
1. Macht und Herrschaft – ihr theoretischer Kontext: politikwissenschaftliche Grundlagen eines dreistufigen Machtmodells nach Max Weber, Peter Bachrach / Morton S. Baratz und Steven M. Lukes, historische Aspekte der politischen Herrschaft und der Inneren Sicherheit;
2. die Konfliktkomponenten: Kriterien politischer Legitimität des japanischen Staates in der Meiji-Zeit, seine wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und die Ursprünge des japanischen Frühsozialismus (hier: egalitär-utopische Traditionen Asiens, Einflüsse der Bewegung für Freiheit und Volksrechte, die Bedeutung des Christentums und eine Uminterpretation des Ethos der Samurai, des bushidô 武士道);
3. die Konzeption innerer Sicherheit: Aufbau von Polizeistrukturen, Entstehungsgeschichte und Inhalt des „Gesetzes der Polizei für öffentliche Sicherheit“ (chian keisatsu-hô 治安警察法, 1900), polizeiliche Überwachungs- und Bespitzelungsmaßnahmen der Sozialisten, Gesetzesrecherche im Ausland (hier: das St. Petersburger Anarchistenabkommen (1904) und andere ausländische Regelungen);
4. Entwicklungslinien der frühsozialistischen Bewegung: von der Sozialdemokratischen Partei des Jahres 1901, eines pazifistischen Ansatzes im Kontext des Russisch-Japanischen Krieges und des Antagonismus von parlamentarischer Sozialdemokratie und Anarchismus, über das politische Engagement japanischer Sozialisten in den USA, hin zur Endphase des Prozesses eines an Härte zunehmenden innenpolitischen Konfliktes, der sich in der Rote-Fahne-Affäre (akahata jiken 赤旗事件, 1908) und der Hochverratsaffäre (taigyaku jiken 大逆事件, 1910) manifestierte, schließlich erste sozialpolitische Modelle des Ausgleichs durch die Verabschiedung des überfälligen Fabrikgesetzes (kôjô-hô 工場法) und der kaiserlichen Stiftung einer „Wohltätigkeitsgesellschaft“ (Saiseikai 済生会, beides 1911);
5. abschließend die Analyse der Herrschaftsbeziehungen, die das Vorgehen der herrschenden Oligarchie im Japan der Meiji-Zeit als eine Kombination von berechtigtem Sicherheitsinteresse und herrschaftspolitischem Machtkalkül interpretiert;
Anhang: deutsche Übersetzungen des Autors: „Gesetz der Polizei für öffentliche Sicherheit“ (1900), der persönliche Gesetzentwurf Yamagata Aritomos 山県有朋 (1838–1922) zur Verschärfung der Sicherheitsgesetze (1910), der „Maßnahmen gegen den Sozialismus“ des damaligen Innenministers Hirata Tôsuke 平田東助 (1849–1925) vom 27.07.1910 und des Fabrikgesetzes (in der Fassung von 1911), außerdem: Dokumentation zeitgenössischer Berichte der Deutschen Botschaft zur Entwicklungsgeschichte des japanischen Frühsozialismus (Bundesarchiv u. Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes), das St. Petersburger Anarchistenabkommen (1904);