Hauptseminar: Lieux de mémoire – Der historische, politische und soziale Hintergrund nationaler Feiertage in Japan
Erinnerung sei das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können, sagte der deutsche Schriftsteller Jean Paul (1763–1825). Diese Aussage bezieht sich ganz eindeutig auf sehr persönliches Gedenken, vornehmlich an als uneingeschränkt positiv empfundene Ereignisse im Leben von Individuen, und sie folgt offensichtlich der Überzeugung, daß man mit zunehmendem zeitlichen Abstand zu einem Ereignis dessen negativen Charakter gelegentlich in den Hintergrund treten läßt, daß die Zeit alle Wunden heile. Der Arzt und Theologe Albert Schweizer (1875–1965) hingegen sagte, die Erinnerung sei die einzige Hölle, in der wir unschuldig verdammt seien. Es sind unsere Erinnerungen – die angenehmen wie die tragischen – die uns zu dem Menschen machen, als der wir uns präsentieren. In Analogie sollte in dieser Lehrveranstaltung der Fragestellung nachgegangen werden, ob man nicht auch im Kontext einer größeren Einheit, der Kategorie der Nation, davon ausgehen kann, daß Erinnerungen identitätsstiftend wirken. Was wird aus welchem Grund erinnert? Wer nahm/nimmt aus welcher Motivation heraus Einfluß auf den Entstehungsprozeß und die die Erinnerungskultur einer Nation, hier: der japanischen Nation?
In dieser Veranstaltung haben wir die Entstehung und inhaltliche Gestaltung japanischer nationaler Gedenk- und Feiertage seit dem Beginn der modernen Geschichte im Spannungsverhältnis von „Politischer Identität“ und „Gedenken“ untersucht. Dabei befassten wir uns eingangs mit theoretischen Annahmen zur „Invention of tradition“ (Eric Hobsbawm), zu einem „kollektiven Gedächtnis“ (Maurice Halbwachs) und dem „kulturellen Gedächtnis“ (Jan Assmann) einer Nation. In einem zweiten Schritt analysierten wir vor diesem theoretischen Hintergrund die historische, politische und soziale Motivation zur Schaffung (bzw. Abschaffung) von Gedenk- und Feiertagen in Japan ab 1868 bis in die Gegenwart und deren mutmaßlich einheitsstiftende Funktion. Wir arbeiteten dabei heraus, ob und wie die Erfahrung von Krieg und Niederlage bis 1945 Einfluß auf die Konnotation nationalen Gedenkens im Japan der Nachkriegszeit bis in die Gegenwart hinein genommen hat.
Die Veranstaltung gliederte sich inhaltlich folgendermaßen:
Lektüre und Diskussion:
♦ SCHNEIDER, Ute (2000): „Geschichte der Erinnerungskulturen.“ In: Cornelissen, Christoph (Hg.): Geschichtswissenschaft – Eine Einführung. Frankfurt/Main: Fischer S. 259–269.
♦ HOBSBAWM, Eric (1998): „Das Erfinden von Traditionen.“ In: Conrad, Christoph u. Martina Kessel (Hg.): Kultur und Geschichte. Neue Einblicke in eine alte Geschichte. Stuttgart: Philipp Reclam Jun. S. 95–118.
♦ NORA, Pierre (1990): Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Berlin: Wagenbach (Textauszug zum Terminus „Lieux de mémoire“).
♦ LE GOFF; Jacques (1992): Geschichte und Gedächtnis. Frankfurt/Main: Campus (Textauszüge).
♦ ASSMANN, Jan (1988): „Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität.“ In: ders. und Tonio Hölscher (Hg.): Kultur und Gedächtnis. Frankfurt/Main: Suhrkamp S. 9–19.
Rechtliche Grundlagen nationaler Gedenk- und Feiertage in Japan seit 1868 im Wandel.
Der Tag der Reichsgründung – kenkoku kinenbi (建国記念日) und kigensetsu (紀元節).
Die Geburtstage – Jinmu-Tennô (神武天皇), Meiji-Tennô (明治天皇), Shôwa-Tennô (昭和天皇) und der gegenwärtige Tennô (今上天皇).
Heer und Marine – rikugun no hi (陸軍の日) / kaigun no hi (海軍の日).
Verfassungspatriotismus? Der kenpô kinenbi (憲法記念日).
Krieg und Frieden – Hiroshima, Nagasaki und die Kapitulation.
Vermischtes 1 – Tag der Alten, Tag der Erwachsenen und Tag der Kinder.
Vermischtes 2 – midori no hi (緑の日), umi no hi (海の日) und taiiku no hi (体育の日).
(Wintersemester 2004/05)