Dokumentar- und Spielfilme historischen Inhalts erfreuen sich nicht nur in Deutschland wachsender Beliebtheit. Auch in Japan bieten Jahrestage und runde Jubiläen nicht nur den Anlaß für wissenschaftliche Konferenzen, Gedenkveranstaltungen und Publikationen, sondern auch für die Aufarbeitung historischer Ereignisse in Form bewegter Bilder. Deren Themen sind vielfältig. So war und ist beispielsweise in ausgewählten Lichtspielhäusern in den Städten Shimanto 四万十, Kyôto 京都 und Tôkyô 東京 im August und September diesen Jahres ein Dokumentarfilm zu sehen, der sich mit der so genannten „Hochverratsaffäre“ (taigyaku jiken 大逆事件) der Jahre 1910 und 1911 beschäftigt.
Die Hochverratsaffäre ist eines der herausragenden Ereignisse in der langen Geschichte der Bekämpfung und Unterdrückung sozialistischer bzw. anarchistischer Überzeugungen in der japanischen Geschichte bis 1945. Unter dem Vorwurf, ein Attentat auf den Meiji Tennô 明治天皇 (1852–1912), dessen Todestag sich 2012 ebenfalls zum hundertsten Male jährte, und den Kronprinzen anläßlich der Geburtstagsparade des Kaisers am 3. November 1910 geplant zu haben, wurden tatsächliche und mutmaßliche japanische Anarchisten zu Hunderten unter dem Generalverdacht der Verschwörung zur Ermordung des Monarchen unter Beobachtung gestellt und verhört, von denen 26 wiederum in einem Verfahren vor dem Reichsgericht (daishin’in 大審院) abgeurteilt wurden. Hintergrund dieses Prozesses bildeten Bestimmungen des „alten Strafgesetzes“ (kyû-keihô 旧刑法), die für eine direkte Beteiligung an Plänen zum Königsmord, dem Hochverrat (taigyaku-zai 大逆罪) also, zwingend die Todesstrafe vorsahen.
Zu den Angeklagten gehörten unter anderen Kôtoku Shûsui 幸徳秋水 (1871–1911), die unangefochtene Führungspersönlichkeit der anarchistischen Bewegung der Zeit, und als einzige Frau dessen Lebensgefährtin Kanno Suga 菅野スガ (eigentlich: Sugako 須賀子, 1881–1911). Wenn auch an einer direkten Beteiligung Kannos an tatsächlichen Attentatsplanungen, bis hin zu praktischen Übungen des Bombenwerfens, kein Zweifel zu bestehen scheint, ist nach wie vor eine Beteiligung Kôtokus an dieser Verschwörung zur Ermordung des Tennô umstritten. Seine ideologische Befürwortung des in einem theoretischen Kontext eher amorphen Maßnahmenkatalogs der „Direkten Aktion“ (chokusetsu kôdô 直接行動), der in einer sehr breiten Interpretation und in einer denkbaren Tradition der russischen Sozialrevolutionäre auch den Terrorismus umfassen konnte, ließ ihn aus dem Blickwinkel der Machthaber nur allzu gerne als den führenden Kopf hinter den Mordplänen erscheinen. Wenngleich auch Kanno und ihre unmttelbaren Mitverschwörer stets eine Mitwisserschaft Kôtokus an ihren Plänen bestritten, gehörte Kôtoku, ebenso wie Kanno, zu den ursprünglich 24 Angeklagten, die zum Tode verurteilt wurden, wenn auch die Strafe von 12 von diesen kurz darauf in lebenslange Haft umgewandelt wurde. Kôtoku, Kanno und die verbliebenen zehn anderen Todeskandidaten wurden am 24. bzw. 25. Januar 1911 hingerichtet. Mit Abschluß dieses Verfahrens trat die anarchistische Bewegung des Landes in ihre „Winterzeit“ (fuyu no jidai 冬の時代) ein, in der nahezu jede politische Agitation bis zu den Reisunruhen (kome sôdô 米騒動) 1918 unmöglich war. In den 1920er Jahren verlor der japanische Anarchismus dann im Wettbewerb mit dem Bolschewismus als der nach der russischen Oktoberrevolution nachweislich erfolgreichen revolutionären Ideologie vollends an Bedeutung.
Unter dem Titel „Hyakunen no kodama – taigyaku jiken wa ikite iru“ (100年の谺ー大逆事件は生きている, etwa: „Der Widerhall von 100 Jahren – die Hochverratsaffäre ist lebendig“) werden 2012 nun in einem Dokumentarfilm die Ereignisse der Jahre 1910 und 1911 nachgezeichnet und nach deren Bedeutung für die Gegenwart gefragt. Der Film entstand auf der Grundlage eines Drehbuchs von Fujiwara Tomoko 藤原智子 (geb. 1932), die bereits mit Filmen über die Tochter des Anarchisten Ôsugi Sakae 大杉栄 und der Frauenrechtlerin Itô Nôe 伊藤野枝 und politischen Aktivistin eigenen Rechts, Itô Rui 伊藤ルイ (1922–1996), über die Pädagogin Tsuda Umeko 津田梅子 (1864–1929) oder über Beate Sirota Gordon (1923–2012), die als Mitarbeiterin am Verfassungsentwurf einen erheblichen Anteil am Gleichstellungsgebot von Mann und Frau in der japanischen Nachkriegsverfassung hat, Berühmtheit erlangte.
Ausgangspunkt des Filmes ist ein Brief Kanno Sugas vom 9. Juni 1910, der 2006 im Nachlaß des Journalisten, Haiku-Dichters und Essayisten Sugimura Sojinkan 杉村楚人冠 (1872–1945, als Adressat hier mit einem weiteren Pseudonym als Sugimura Jûô 杉村縦横) gefunden wurde. Nur scheinbar ein Bogen weißen Papiers wird die Nachricht, die von Kanno in der Haft heimlich mit der Nadel gestochen (hari moji 針文字) und auf unbekanntem Weg Sugimura zugestellt wurde, nur sichtbar, wenn der Bogen gegen das Licht gehalten wird. In diesem Schreiben bittet Kanno Sugimura, einen Bekannten ihres Lebensgefährten aus den Zeiten sozialistischer Studiengruppen am Ende des 19. Jahrhunderts, Kôtoku einen Anwalt zu vermitteln, da sie in Kürze mit der Todesstrafe bedroht seien, Kôtoku aber „von nichts“, also nichts über die Planungen eines Attentates, wisse (kare wa nanimo shiranu no desu 彼ハ何ニモ知ラヌノデス). Dieser Einstieg, aber auch die Mitarbeit der vor über 50 Jahren im Umfeld derjenigen, die sich um ein Wiederaufnahmeverfahren nach Ende des Krieges bemühten, entstandenen, zivilgesellschaftlichen „Vereinigung zur Aufdeckung der Wahrheit der Hochverratsaffäre“ (taigyaku jiken no shinjitsu o akiraka ni suru kai 大逆事件の真実を明らかにする会) scheint einen ersten Eindruck von der Absicht des Filmes zu geben.
Im weiteren Verlauf des Films werde den Motiven und Handlungen der Opfer der Hochverratsaffäre nachgespürt, ihre Verarbeitung bzw. Resonanz in der japanischen Literatur nachgezeichnet und dieses historische Ereignis mit der Dreyfus-Affäre in Frankreich kontrastiert. Der Film schließe, so die im Vorfeld der Aufführungen publizierte Inhaltsangabe, mit einer Darstellung der vielfältigen Aktivitäten zur Erinnerung an die im Strafverfahren Verurteilten bzw. für deren Rehabilitierung und versuche, das Verhältnis des Individuums zum Staat in Geschichte und Gegenwart Japans zu erhellen.
Ich hoffe auf eine spätere Veröffentlichung des Films als DVD, um mir einen persönlichen Eindruck seines Inhalts machen zu können, da einen, auch dies ist eine Erfahrung des wissenschaftlichen Arbeitens, ein Thema, mit dem man sich in Buchform intensiv beschäftigt hat, auch nach Jahren nie mehr wirklich losläßt.