Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Erschrecken Sie bitte nicht. Ich habe nicht die Absicht, mich in diesem Beitrag jener Frage des Gretchens zuzuwenden, die Goethe im „Faust“ dieser in den Mund legte: „Nun sag, wie hast du’s mit der Religion?“ Privates darf privat bleiben; Glaubensfragen werden nur am Rande berührt – zumindest soweit sie meine persönlichen religiösen Überzeugungen betreffen. Ein Glaubensbekenntnis möchte ich weder abgeben noch verlangen. Meine Absicht ist es vielmehr nur, von einer Reise zu berichten, die mich schon vor mehreren Monaten, Anfang März 2014, in den Norden Japans, in das Dorf Shingô 新郷 im Süden der Präfektur Aomori 青森県, auf den Spuren einer japanischen Jesus-Legende zu einem Grab führte, das angeblich das „Grab Christi“ (Kirisuto no haka キリストの墓) sein soll. Dieses Grab steht dennoch nicht etwa in einem christlichen Kontext, sondern sollte bei seiner „Entdeckung“ im Jahr 1935 Glaubensinhalte einer neuen, in Shintô-Tradition stehenden Religion (shintô-kei shin-shûkyô 神道系新宗教) stützen, deren Exegese dazu veranlaßt, diese Religion in einer Kombination aus religions- und politikwissenschaftlicher Analyse unter dem Dach des religiösen Nationalismus, hier des Shintô-Nationalismus, zu verorten.
Die Anreise
Nun ist der März vielleicht keine ideale Reisezeit, um diese Region in Japans Norden aufzusuchen. Dies gilt besonders für das Ende des Winters in diesem Jahr, der Teile des Landes ab der zweiten Februarhälfte bis in den März 2014 hinein fest im Griff hielt. An einigen Universitäten mußten die Aufnahmeprüfungen für das im April beginnende akademische Jahr ein zweites Mal abgehalten werden, da einige Prüfungskandidatinnen und –kandidaten den Prüfungsort wegen der Schneemassen nicht rechtzeitig erreichen konnten. Im Gegensatz dazu reiste ich mit einem ausschließlich Touristen vorbehaltenen, vergleichsweise günstigen 5‑Tage-Ticket für die Schnellzüge im Nordosten Japans geradezu komfortabel. In nur knapp 3 Stunden erreichte ich mit dem Schnellzug „Wanderfalke“ (shinkansen hayabusa 新幹線はやぶさ), von Tôkyô kommend, die dem Dorf Shingô nahegelegene Küstenstadt Hachinohe 八戸, von der aus ich am nächsten Tag mit Bus und Taxi meine Reise fortzusetzten beabsichtigte.
Der durch den gut ausgebauten Personennahverkehr der Hauptstadt verwöhnte Reisende muß sich in dieser Region des Landes umstellen. Allein die Abfahrt eines Busses pro Stunde machte schon eine genauere Reiseplanung erforderlich. Dafür ist man mit einem Einheitspreis von 500 Yen (ca. 4 Euro) als Fahrpreis für den gesamten Vekehrsverbund der Nanbu-Bus-Gesellschaft 南部バス vergleichsweise günstig unterwegs. Nach etwas mehr als einer halben Stunde erreicht man mit dem Busbahnhof Gonohe 五戸 die erste Station dieser „Pilgerreise“ der besonderen Art. Wenn auch angeblich von Gonohe ein Bus in Richtung des Dorfes Shingô fahren soll, empfiehlt es sich dann doch, in eines der offenbar raren Taxis umzusteigen. Nach weiteren dreißig Minuten Fahrtzeit ereicht man so bequem, wenn vielleicht auch mit ca. 3500 Yen (ca. 25 Euro) Fahrtkosten nicht unbedingt preisgünstig, den Ort, an dem sich das „Grab Christi“ befinden soll.
Regionale Kooperation – historisch und zeitgenössisch
Die schon im Namen der Busgesellschaft enthaltene geografische Bezeichnung Nanbu 南部 beschreibt eine historisch gewachsene Region, die in der frühen Neuzeit bis zur Rückgabe der Lehen an den Tennô und die Einrichtung der Präfekturen (haihan chiken 廃藩置県) im Rahmen eines zeitlich längeren Prozesses, der 1871 seinen Abschluß fand, von der Familie gleichen Namens bzw. ihrer familiären Nebenlinien beherrscht wurde. Wenn auch heutzutage dieses Gebiet durch die Grenze zwischen den Präfekturen Iwate 岩手県 im Süden und Aomori im Norden durchschnitten wird, umfaßt es historisch die Territorien dreier Lehensfürstentümer (han 藩), des Morioka-han 盛岡藩, des Hachinohe-han 八戸藩 und des Shichinohe-han 七戸藩, zusammenfassend als Nanbu-han 南部藩 bezeichnet, deren gemeinsame Geschichte unter der Herrschaft der Nanbu auch heute noch mit Hinzunahme zweier geographisch entfernter Gemeinden aus der Präfektur Yamanashi 山梨県 als Begründung für eine informelle wirtschaftliche und kulturelle Zusammenarbeit dient. Virtuell schloß man sich zum in deutscher Sprache etwas gekünstelt klingenden „Nanbu-han der Heisei-Zeit“ (Heisei ・ Nanbu-han 平成・南部藩) zusammen.
Das verbindende Element dieser Zusammenarbeit wird durch das Wirken einer historischen Persönlichkeit des japanischen Mittelalters definiert: Nanbu Mitsuyuki 南部光行, der sich am Übergang der Heian-Zeit (794‑1185/1192) zur Kamakura-Zeit (1185/1192–1333) in der „Schlacht von Ishibashiyama“ (Ishibashiyama no tatakai 石橋山の戦い) 1180 im Kampf der Kriegerclans der Minamoto gegen die Taira, dem so genannten Genpei-Krieg (Genpei kassen 源平合戦, 1180–85), für seinen Verwandten Minamoto no Yoritomo 源頼朝 (1147–1199) heldenhaft hervorgetan hatte. Er erhielt als Stammvater der Familie zur Belohnung zunächst in der Provinz Kai (Kai no kuni 甲斐国), heute in der Präfektur Yamanashi gelegen, ein Gebiet Nanbu, das für die Familie namensgebend wurde, zum Lehen, bevor sich der Clan dann zu einer lokalen Macht im Nordosten Japans entwickelte. Innerhalb dieses ehemaligen Herrschaftsgebietes der Nanbu gibt es dann außerdem regionale Kooperationsformen mit kleinerem Radius, wie etwa den Versuch einiger Gemeinden, zu denen auch das Dorf Shingô mit seinem „Grab Christi“ gehört, unter dem Namen „Nanyadoyara-Weg“ (Nanyadoyara kaidô ナニャドヤラ廻道) die reiche Naturlandschaft (Stichwort: dai-shizen no sato 大自然の里), lokale Sehenswürdigkeiten, archäologische Fundorte und die Produktionsstätten landwirtschaftlicher Waren besonders zu bewerben. „Nanyadoyara“ ist hier Teil eines eigentümlichen Liedtextes zur musikalischen Untermalung (hayashiuta 囃子歌) des Bon-Tanzes (bon-odori 盆踊り). Dieses Lied ist in der Nanbu-Region ungeachtet seiner für jedermann unverständlichen Konnotation und ungeklärten Herkunft, die mal auf eine Dichtung des Chôkei Tennô 長慶天皇 (1343–1394) in Sanskrit, mal auf die hebräische Sprache zurückgeführt wird, weit verbreitet und wird beispielsweise auch bei dem jährlich seit 1963 im Dorf Shingô im Juni stattfindenden „Christus-Fest“ (Kirisuto matsuri キリスト祭り) verwendet.
Shintô, nicht Christentum – das „Grab Christi“ im Kontext der „Takeuchi-Dokumente“
Erreicht man nun das Dorf Shingô, kann man inmitten der sich über ca. 150 Quadratkilometer erstreckenden Gemeinde mit ihren ca. 2780 Einwohnern, von denen keiner dem christlichen Glauben angehört, schon von Ferne zwei Hügelgräber auf einer Anhöhe erkennen, die inzwischen durch zwei hohe Holzkreuze besonders gekennzeichnet werden: das „Grab Christi“ (toraizuka 十来塚) und das angebliche Grab (jûdaibo 十代墓) seines Bruders Isukiri イスキリ, der sich der japanischen Jesus-Legende zufolge anstelle seines Bruders habe auf dem Berg Golgatha kreuzigen lassen. Soll im „Grab Christi“ auch tatsächlich der Leichnam Christi beigesetzt worden sein, enthielte das Grab seines Bruders nur eine Locke von dessen Haupthaar und angeblich dessen Ohren – Erinnerungsstücke (katami 形見) also, die Christus selbst bei seiner Reise nach Japan mit sich geführt habe.
Zur eigentlichen Quelle dieser phantastischen Überlieferung wurde ein Schriftstück, das um das Jahr 1931 herum in einem größeren Textkorpus, den so genannten Takeuchi-Dokumenten (Takeuchi monjo 竹内文書) gefunden worden sein soll: das „Testament Christi“ (Kirisuto no yuigonsho キリストの遺言書). Dieser Textkorpus lieferte die Begründung für eine, den durch die Machthaber propagierten Überzeugungen der Zeit völlig zuwiderlaufende „Reichsgeschichte“ Japans, die sich aufrgund ihrer Inhalte weit eher als „Weltgeschichte“ offenbarte. Die Takeuchi-Dokumente sind für eine breitere japanische Öffentlichkeit eine Entdeckung der 1920er Jahre, obgleich sich die etwa 4000 Texte und Artefakte als ein Kompendium von Dokumenten und Gegenständen präsentierten, das die gesamte Spanne der japanischen Geschichte, von der Schöpfung der Welt bis in die Anfangsjahre der Meiji-Zeit (1868–1912), abzudecken schien. Neben Aufzeichnungen auf Baumrinde, Leder oder Papier gehörten zu der Sammlung ebenso Steine mit verschiedenen, vornehmlich in „Schriftzeichen der Götterzeit“ (kamiyo moji, auch jindai moji 神代文字) ausgeführten Inschriften. Mit der Behauptung, bei derartigen Schriftsystemen habe es sich um eigenständige Formen der Schriftlichkeit in Japan vor der Einführung der kana (仮名) gehandelt, wurde über Jahrhunderte bis in die 1940er Jahre der letztlich vergebliche Versuch unternommen, eine eigenständige, von China völlig unabhängige kulturelle Leistung Japans zu belegen. Ihre Existenz wird heute wissenschaftlich verneint. Das Vorhandensein der Takeuchi-Dokumente wurde in den Anfangsjahren der Shôwa-Zeit (1926–1989) von Takeuchi Kiyomaro 竹内巨麿 (1875–1965), einem selbstbehaupteten Nachfahren Takeuchi no Sukunes 武内宿禰, jenes mythischen Helfers der Jingū kōgō 神功皇后 (2./3. nachchristliches Jahrhundert), der sagenumwobenen Gattin des Chûai Tennô 仲哀天皇, und zahlreicher Tennō in den ersten vier Jahrhunderten unserer Zeitrechnung, öffentlich gemacht. Diese Dokumente zählt man heute in ihrer Gesamtheit zu Fälschungen, die in der japanischen Publizistik bis in die Gegenwart vor allem das Interesse von Pseudowissenschaftlern auf sich zogen. Im Tenor, aber dennoch stark verkürzt dargestellt, behaupteten sie eine historisch gewachsene Weltherrschaft Japans durch die völlige kulturelle Überlegenheit des Landes seit der Vor- und Frühgeschichte.
Nach der „Entdeckung“ des „Testamentes“ begab sich Takeuchi Kiyomaro offenbar auf die Suche nach dem Grab, das er 1935 in dem Dorf Herai 戸来, dem heutigen Shingô, gefunden zu haben glaubte. Seine Suche führte ihn zu zwei Erdhügeln, die er zu den Gräbern Christi und seines Bruders erklärte. Das ursprünglich in „Schriftzeichen der Götterzeit“ verfaßte „Testament Christi“ sei angeblich von Heguri no Matori 平群真鳥, dem Enkel Takeuchi no Sukunes vom Übergang des 5. zum 6. Jahrhunderts, „übersetzt“ worden. Sein Inhalt offenbarte Unglaubliches. Jesus Christus sei nicht am Kreuz gestorben, sondern habe mit einigen Anhängern über Sibirien und Alaska eine mehrjährige Reise nach Japan angetreten, das er im 33. Jahr der Regentschaft des Suinin Tennô 垂仁天皇 nach einer Überfahrt in einer Bucht in der Nähe des heutigen Hachinohe erreicht habe – dem Land, in dem er bereits als junger Erwachsener auf seine Aufgabe in Palästina, der Verbreitung ursprünglich japanischen Geheimwissens, vorbereitet worden sei. In Nordjapan habe er ein erfülltes Leben geführt und sei im Alter von 106 Jahren in Herai, für dessen Namen angeblich heburai ヘブライ – mit der Konnotation „Hebräisch“ – Pate gestanden habe, hochangesehen verstorben. Dort sei er auch beerdigt worden.
Ungeachtet des Erfindungsreichtums dieses Narrativs voller literarischer Qualität verweist der Inhalt dieser Legende letztlich auf eine versuchte Japanisierung des Christentums in der ersten Hälfte der Shôwa-Zeit als Teil eines viel umfassenderen Konzeptes, durch die (gefälschten) Takeuchi-Dokumente scheinbar belegbar, jede kulturelle, politische und religiöse Leistung – egal in welchem Teil der Erde – für Japan zu vereinnahmen. Die Vernichtung eines großen Teils der Takeuchi-Dokumente in den Luftangriffen auf die japanische Hauptstadt zu Beginn des Jahres 1945, zahlreiche inhaltlich konkurrierende „Abschriften“ inzwischen zerstörter Dokumente und das mehrheitlich pseudowissenschaftliche Interesse halbseidener Autoren erschwert die Rekonstruktion dieses Gesamtkonzeptes, dessen Inhalte den Religionsgründer Takeuchi Kiyomaro aufgrund seines vom dominanten Schöpfungsmythos Japans abweichenden Narrativs nicht nur vor 1945 massivem Druck durch die japanischen Pollizei- und Justizbehörden aussetzten, sondern auch in der Besatzungszeit zu einem Verbot seiner Religionsgemeinschaft als „ultranationalistische religiöse Organisation“ durch die Administration des Oberkommandierenden führten. Erst das Ende der Besatzungszeit erlaubte deren Neugründung.
In unmittelbarer Nähe der Grabstellen findet sich ein kleines Museum jenes „Heimatdorfes Christi“ (Kirisuto no sato denshôkan キリストの里伝承館), in dem einerseits auf die „Entdeckung“ der Gräber und die im Hintergrund stehende „Jesus in Japan“-Legende eingegangen wird, in dem man aber zugleich auch auf damit in Zusammenhang stehende, frühere Bräuche des Ortes einzugehen versucht. Für den Japanischkundigen ist durchaus interessant, wie vorsichtig im sprachlichen Ausdruck die Ausstellungsstücke mit Erklärungen versehen wurden. Vieles verbleibt im Möglichen, Verschiedenes behutsame Beschreibung von Hörensagen, ohne wirkliche Tatsachenbehauptungen aufzustellen. Wenngleich es auch früher Beschwerden von christlichen Gläubigen gegeben haben soll, sei dies inzwischen nicht mehr der Fall, versicherte mir die im Dorf Shingô für Tourismusförderung zuständige Mitarbeiterin der örtlichen Vewaltung. Das Museum ist übrigens in den Wintermonaten geschlossen, wie eigentlich die gesamte Anlage witterungsbedingt bis Ende März nur schwer zugänglich zu sein scheint. Durch den starken Schneefall zuvor mußte ich mich jedenfalls, bis zu den Knien im Schnee versinkend, mühsam den Hügel hinauf und zu den Gräbern vorarbeiten.
Zu den Bräuchen des Ortes gehörte es früher offenbar, bei einem Todesfall in der Familie sein Haus mit einem aus zusammengebundenen Zweigen geformten Kreuz kenntlich zu machen. Bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts war es zudem angeblich üblich, Neugeborenen, die erstmals an die frische Luft gebracht wurden, ein Kreuz auf die Stirn zu zeichnen. Wenn auch die im Katholizismus bereits seit dem 11. Jahrhundert gängige Praxis des Aschekreuzes auf der Stirn gemeinhin als Aufforderung zur Buße („Denn Staub bist du und zum Staube wirst du zurückkehren.“, 1. Moses 3,19) verstanden wird, scheint im japanischen Kontext offenbar auf das besondere Schutzbedürfnis der noch schwachen Kreatur abgehoben zu werden. Möglicherweise wäre es eine interessante Aufgabe für die Ethnologie, die tatsächliche Verbreitung dieser Brauchtümer – räumlich und zeitlich – zu untersuchen. Mir wurde jedenfalls berichtet, daß diese Verfahrensweisen schon in den unmittelbar benachbarten Gemeinden völlig unbekannt gewesen seien.
Das nachdenkliche Ende dieser „Pilgerfahrt“
Nicht nur Säuglinge benötigen Schutz. Dies gilt für den wegen der winterlichen Temperaturen angestrengten Körper eines Erwachsenen gelegentlich gleichermaßen. Von einem eisigen Wind erschöpft, lockte zur Stärkung des Besuchers in einer nahegelegenen Nudelsuppenküche vor allem eine Speise nicht nur durch ihren günstigen Preis, sondern vielmehr durch ihren besonderen Namen: die „Christus-Nudelsuppe“. Daß es sich hierbei letztlich um eine Nudelsuppe handelte, wie sie vielerorts in Japan angeboten wird, tat der wärmenden Wirkung der Speise keinen Abbruch. Ohne die befürchtete Erkältung konnte ich – weniger beseelt, als vielmehr nachdenklich, zweifelnd und doch voller Verständnis für jede Bemühung, eine infrastrukurell vernachlässigte Region mit touristischen, wenn auch „unglaublichen“ Mitteln zu beleben – meine Rückfahrt antreten.