Am 16.08.2012, seinem 106. Geburtstag, so weiß die japanische Tageszeitung Mainichi shinbun zu berichten, wurde Shôchi Saburô 曻地三郎 in das „Guiness Buch der Rekorde“ aufgenommen. Seine besondere Leistung bestand darin, als bisher „ältester Mensch unter Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel die Erde umrundet“ zu haben. Seit seinem 100. Geburtstag hat sich Shôchi Saburô, der auf seiner Reise stets mit einem schwarzen Zylinder und rotem Hutband zu sehen war, jährlich auf eine Vortragsreise ins Ausland begeben. Zu seiner diesjährigen Flugreise war er am 16.07. in seiner Heimatstadt Fukuoka aufgebrochen. Er legte rund 57.000 Kilometern bei 16 Umstiegen zurück. In der First Class reiste er, seinem Alter entsprechend, vergleichsweise bequem. Unter anderem nahm der promovierte Pädagoge am „International Congress of Psychology“ in Cape Town (Südafrika) teil. Wenn man der Mainichi shinbun glauben darf, ist sein nächstes persönliches Ziel die Teilnahme am kommenden Psychologenkongress – 2016 in Yokohama.
Ungeachtet dieser äußerst respektablen Leistung wäre es sicher nicht allzu interessant, hier weiter auf diese Person einzugehen, wenn sich bei näherer Recherche nicht eine noch bemerkenswertere Lebensgeschichte offenbarte. Dieser noch im 39. Jahr der Meiji-Zeit (1906) auf Hokkaidô Geborene kann auf ein an akademischen Titeln und internationalen wissenschaftlichen Auszeichnungen reiches, aber auch mit persönlichen Prüfungen versehenes Leben zurückblicken.
Nach einer Ausbildung an der Höheren Lehrerbildungsanstalt in Hiroshima (Hiroshima kôtô shihan gakkô 広島高等師範学校) und einer Anstellungsphase als Lehrer nahm er an einer Universität in Hiroshima ein Studium der pädagogischen Psychologie (kyôiku shinri-gaku 教育心理学) auf und erwarb einen Doktorgrad der Philosophie. Aufgrund der Erkrankung seines 1936 geborenen ersten Sohnes an zerebraler Kinderlähmung ergänzte er seine Studien nach einer medizinischen Grundausbildung im Fach Psychiatrie (seishin igaku 精神医学) und erwarb 1956 einen Doktortitel der Medizin. Inzwischen Ehren-Professor der Erziehungswissenschaftlichen Universität Fukuoka (Fukuoka kyôiku daigaku meiyo kyôju 福岡教育大学名誉教授), an der er lange Jahre tätig war, führt er außerdem gleiche Auszeichnungen der Changchun Universität 長春大学 in China, der Pädagogischen Universität Ostchinas in Shanghai 華東師範大学 und der Moscow State University of Psychology & Education.
Doch auch diese akademischen Ehren alleine runden das Bild dieses Mannes nicht wirklich ab. Nachdem auch sein zweiter, 1947 geborener Sohn an zerebraler Kinderlähmung erkrankte, verkaufte er gemeinsam mit seiner Frau, der Erbin eines Sakebrauers und Seehandelsagenten, deren Firmen, erwarb ein stattliches Grundstück neben seinem Wohnhaus in Fukuoka und richtete 1954 dort eine der ersten Bildungseinrichtungen Japans für behinderte Kinder – heute ein Kindergarten für Kinder mit Behinderung im Alter von 3 Jahren bis zum Eintrittsalter in das reguläre Schulwesen – ein: die „Kleinkastanien-Lehranstalt“ (Shii no mi gakuen しいのみ学園).
In der in Japan bei solchen Anlässen durchaus üblichen bildhaften Sprache heißt es in den Grundsätzen zu der in der Rehabilitation der Behinderten verfolgten Einstellung dieser Einrichtung, dass Kinder mit Behinderung ebenso wie die Kleinkastanien, die inmitten der Berge von Menschen und Tieren zwar plattgetreten werden, aber durch stärkendes Wasser und wärmendes Sonnenlicht Triebe entwickelten, in analoger Weise gefördert werden müßten. „Warmherzige Zuneigung und intensives Studium“ (attakai aijô to kibishii kenkyû 温かい愛情と厳しい研究) sei das Motto der Einrichtung.
Noch unter seinem Geburtsnamen Yamamoto Saburô 山本三郎 – erst später nahm er den Familiennamen seiner Frau, die ebenso wie seine drei Kinder (die beiden Söhne und eine Tochter) inzwischen verstorben ist, an – veröffentlichte Shôchi 1954 die Geschichte seiner Familie: die Bemühungen eines Universitätsprofessors mit zwei behinderten Söhnen, die in der Schule gehänselt und zurückgesetzt werden und für die er eine Bildungseinrichtung schafft. Schon 1955 wurde dieses Buch sehr erfolgreich von der japanischen Filmgesellschaft Shin-tôhô (新東宝) verfilmt. Unter der Regie von Shimizu Hiroshi 清水宏 (1903–66) und auf der Grundlage von dessen Drehbuch spielten in den Hauptrollen Uno Shûkichi 宇野重吉 (1914–88) und Kagawa Kyôko 香川京子 (geb. 1933). Besonderer Beliebtheit erfreute sich das Titellied, „das Lied der Kleinkastanie“ (shii no mi no uta しいのみの歌). Sowohl mit seiner schriftstellerischen und wissenschaftlichen wie pädagogisch-praktischen Arbeit leistete Shôchi einen wichtigen ersten Beitrag zur Integration von Behinderten in die japanische Gesellschaft.
Was ist Shôchi Saburô also zu wünschen? Nun, ich denke, noch viele Weltreisen als Vorbereitung auf rauschende Geburtstagsfeiern …
Nachtrag (29.12.2013): Vor etwas mehr als einem Monat hat Shôchi Saburô seine letzte Reise angetreten. Er verstarb am 27. November 2013 im Alter von 107 Jahren in einem Krankenhaus seines Wohnortes Fukuoka.