Nachbarschaftsgruppen (tonarigumi 隣組) in Japan (1940–1945): Die Mobilisierung des Alltags der Kriegsjahre in vergleichend historisch-sozialwissenschaftlicher Perspektive
Dieses Projekt wurde von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) vom 1. Juli 2011 bis 30. Juni 2013 als „Eigene Stelle“ gefördert (GZ: SP 1337/1–1) und wird unter dem Dach des Internationalen Graduiertenkollegs „Formwandel der Bürgergesellschaft. Japan und Deutschland im Vergleich“ an der Universität Halle-Wittenberg nun zum Abschluß geführt.
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1. Zusammenfassung:
Als Beitrag zur (politischen) Alltagsgeschichte Japans sollen die Geschichte, die Organisationsformen, die Aufgaben und Funktionen sowie die Wirkungsgeschichte der japanischen Nachbarschaftsgruppen (tonarigumi 隣組) als sozialer Einheit einer Gesellschaft im „Totalen Krieg“ (sôryokusen 総力戦) zwischen 1940 und 1945 untersucht werden. Das Gewaltphänomen „Krieg“ wird in diesem Kontext nicht modernisierungstheoretisch als Fehlentwicklung einer japanischen Moderne, sondern als Ursache und Antrieb der Konstitution einer modernen japanischen Gesellschaft verstanden. Dem Paradigma der „Modernität des Krieges“ folgend, sollen die Techniken und Strategien zur Mobilisierung aller gesellschaftlichen Kräfte unter den Bedingungen des „Asiatisch-Pazifischen Krieges“ (Ajia Taiheiyô sensô アジア・太平洋戦争, 1931–1945) im Bereich nachbarschaftlicher Zusammenschlüsse vor dem Hintergrund der funktionalen Ausdifferenzierung moderner arbeitsteiliger Gesellschaften, hier: der japanischen Kriegsgesellschaft, herausgearbeitet werden.
Die die Forschung leitende Hypothese ist dabei, dass die Institution der Nachbarschaftsgruppen und die mit ihnen verbundene Einsicht des japanischen Volkes in die Solidarität als Notgemeinschaft insbesondere dann gefordert wurde, als die Defizite der staatlichen Institutionen in der Ausübung ihnen eigener Aufgaben im sich für Japan verschlechternden Verlauf des Krieges zutage traten. Die Verifizierung dieser These würde das bisher verbreitete Bild eines bis unmittelbar zur Niederlage im August 1945 repressiven Staates in Teilen neu konturieren.
2. Forschungsgegenstand:
Die wissenschaftliche Analyse der Bedeutung des Gewaltphänomens „Krieg“ auf die Entwicklung eines Gemeinwesens verfügt über eine lange Forschungstradition (1). Gleichwohl etablierte, aufbauend auf den Forschungen des niederländischen Soziologen und Ethnologen Sebald Rudolf Steinmetz (1862–1940) (2), der französische Soziologe Gaston Bouthoul (1896–1980) unter dem Eindruck der Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs und dessen Auswirkungen auf die vornehmlich europäischen Gesellschaften den besonderen Forschungsbereich einer eigenständigen „Wissenschaft vom Krieg“ oder „Polemologie“ (3) innerhalb der Soziologie und kennzeichnete den Krieg als die bemerkenswerteste unter allen „formes de passage“ des sozialen Lebens (4). Gleichermaßen wurden bereits in der ersten Hälfte der 1940er Jahre – nicht zufällig – die Ergebnisse einer frühen Forschung in dem an Kriegen reichen 20. Jahrhundert hinsichtlich des Zusammenspiels von Krieg und Gesellschaft in einem ostasiatischen Kontext, im Japan inmitten des Asiatisch-Pazifischen Krieges (1931–1945), rezipiert (5).
Eine Erweiterung dieser ersten kriegsätiologischen Sozialstudien erfuhr der Forschungsbereich der Kriegs- und Krisensoziologie in Abgrenzung zur modernisierungstheoretischen Interpretation des Krieges „als noch nicht oder ungenügend vollzogene Modernisierung“ bzw. als „Ausdruck von Ungleichzeitigkeiten zwischen politischen, gesellschaftlichen, kulturellen und technologischen Modernisierungsprozessen“ (6) durch den Ansatz, „Krieg in der Moderne zu denken“, folglich also die „Modernität des Krieges“ als Ausdruck seiner, die moderne Gesellschaftlichkeit konstituierende Eigenschaft in den Mittelpunkt wissenschaftlichen Analysen zu stellen. (7)
In diesem Kontext hat in der historischen Forschung allgemein die Fragestellung nach den ökonomischen, politischen und sozialen Mobilisierungstendenzen, der Fähigkeit zur und der Effektivität von Mobilisierung eines Gemeinwesens im Krieg auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene und deren über das Kriegsende hinausreichenden Wirkungen an Bedeutung gewonnen (8). Mobilisierung ist als Prozess zu verstehen, „durch den eine Einheit beträchtliche Zugewinne in der Kontrolle von Ressourcen erzielt, die sie vorher nicht kontrolliert hat“, wobei dieser Zuwachs an Ressourcen „die Fähigkeit der Einheit vergrößert, als Einheit zu handeln“. Als Bestandteile dieses stets „abwärts gerichteten“ Verfahrens ist (1.) in koerzive Mobilisierung (im Militärischen), (2.) in utilitaristische Mobilisierung (in Administration und Ökonomie) und (3.) zur Stärkung der Loyalitäten gegenüber dem Nationalstaat in eine normative Mobilisierung zu unterscheiden (9). Synonym kann der Begriff der „Selbstermächtigung“ einer sozialen Einheit als totale Freisetzung aller gesellschaftlichen Kräfte zur Abwehr eines (äußeren) Feindes für die normative Mobilisierung stehen, soweit dieser Prozess nicht ausschließlich durch eine Kontrollinstanz von oben motiviert ist, sondern seinerseits „von unten“, durch das Volk selbst beeinflusst bzw. partiell gesteuert wird (10).
In Analogie zu den modernisierungstheoriekritischen Überlegungen zum Krieg als Ursache gesellschaftlicher Konstitutionsprozesse scheint die normativ geladene Interpretation der historischen Entwicklungen im japanischen Gemeinwesen zur Zeit des Asiatisch-Pazifischen Krieges als Fehlentwicklung bzw. „eigenartige Fehlerstelle“ in einer ansonsten auf Demokratisierung und Liberalisierung abzielenden Entwicklung spätestens seit den 1980er Jahren in der der japanischen Geschichtswissenschaft und der außerjapanischen Japanforschung weitgehend überwunden worden zu sein. Vielmehr wird inzwischen mehrheitlich anerkannt, die Ereignisse im Japan des 20. Jahrhunderts als kontinuierliche historische Einheit zu verstehen (11), ohne die Kriegszeit ausschließlich als Phase der Gleichzeitigkeit technischen Fortschritts und politisch-kultureller Rückständigkeit zu interpretieren, in der eine (westliche) Moderne „überwunden“ werden sollte. (12) Gleichermaßen unumstritten scheint zu sein, dass das japanische Volk in der Heterogenität seiner Interessen nicht ausschließlich von einer Allianz des Militärs mit einem großen Teil der politischen Herrschaftselite zu einem Krieg verführt wurde.
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In der bisherigen Forschung zu der Entwicklung der Nachbarschaftsgruppen zwischen 1938/1940 und 1945 hat stets im Vordergrund gestanden, dass es sich um ein Kontroll- und Unterdrückungsinstrument gehandelt habe, das von den Institutionen und Eliten des japanischen Staates eingesetzt worden ist, um sich des Gehorsams der japanischen Untertanen langfristig zu versichern. Mit diesem Forschungsprojekt soll aber dieser zweifelsfrei richtigen Einschätzung nun die Fragestellung hinzufügt werden, ob es nicht eine duale Struktur dieser Gruppen, also neben der im Vordergrund stehenden Kontroll- und Disziplinierungsfunktion ebenso verdeckt, vielleicht sogar verschüttete und letztlich von den Machthabern unbeabsichtigte zivilgesellschaftliche Aspekte gegeben hat. Die Entstehungsgeschichte der Nachbarschaftsgruppen als juristische Person 1940 auf Befehl der Regierung allein scheint eine generelle Verneinung dieser Frage nicht zu rechtfertigen Haben also möglicherweise die verschiedenen Machthaber in der japanischen Geschichte, nicht zuletzt die Vertreter des japanischen Militarismus und die Advokaten eines Tennô-Absolutismus, durch die Einrichtung den Nachbarschaftsgruppen sehr ähnlicher Organisationsformen in analoger Weise und in langer zeitlicher Perspektive zivilgesellschaftliche Strukturen – notabene japanischer Provenienz – vorbereitet, die dann im durch die amerikanische Besatzungsmacht demokratisierten Japan nach der Wiedererlangung der staatlichen Souveränität vollends zutage treten konnten? Sollte sich in meiner ergebnisoffenen Untersuchung herausstellen, dass sich diese Faktoren am Beispiel der Nachbarschaftsgruppen nicht identifizieren lassen, wäre in einem weiteren Analyseschritt zu untersuchen, welche Ursachen zu einer disparaten Entwicklung Japans geführt haben könnten.
Dieses Forschungsprojekt versteht sich als Beitrag zur (politischen) Alltagsgeschichte Japans, in dem neben die sozioökonomischen Analyse und Evaluation der Gesellschaftsstrukturen zugleich auch die „Interaktion der Gesellschaftsmitglieder“ tritt. Den Kernbereich machen hier „die sozialen Praktiken der Menschen und ihre Einflussmöglichkeiten auf die gesellschaftlichen Strukturen“ (13) aus . Analysiert werden sollen die Geschichte, die Organisationsformen, die Aufgaben und Funktionen sowie die Wirkungsgeschichte der japanischen Nachbarschaftsgruppen als sozialer Einheit einer Gesellschaft im „Totalen Krieg“. Dies folgt der Annahme, dass die vollständige Mobilisierung einer Gesellschaft in politischer, wirtschaftlicher und militärischer Hinsicht sowie deren Militarisierung im Sinne einer „Prägung von politischen und gesellschaftlichen Teilbereichen einer Gesellschaft durch das Militär“ (14) dem Wesen der Nachbarschaftsgruppen eine besondere Qualität verlieh. Aus diesem Grund ist den Inhalten der Mobilisierungsmaßnahmen, den Techniken der Umsetzung sowie den Reaktionen des japanischen Volkes auf diese sowie dessen Beitrags im Rahmen der Selbstermächtigung innerhalb nachbarschaftlicher Zusammenschlüsse eine besondere Bedeutung beizumessen. Nachbarschaft wird in diesem Kontext nach Ferdinand Tönnies, der den Begriff mit dem der Blutsverwandtschaft konturiert, als „Basis des Zusammenlebens, welche mit dem bebauten Grund und Boden gegeben ist“, also als räumliches „Prinzip des Zusammenlebens“ in Dörfern und Städten (15), verstanden.
Ziel dieses Forschungsvorhabens ist es zugleich, einer Historisierung zeitgenössischer Entwicklungsprozesse und ihrer Formen der Vergesellschaftung in Japan – neben und in Beziehung zum Staat (16) – durch die Einführung neuer analytischer Kategorien zu fördern.
Endnoten:
1: Neben den philosophischen Überlegungen Immanuel Kants unter dem Titel „Mutmaßlicher Anfang des Menschengeschlechts“ [1786] beispielsweise Carl von Clausewitz und sein Werk „Vom Kriege“ [1832–34] oder etwa Pierre-Josephs Proudhons „La Guerre et la Paix“ [1861]. Zurück zum Text
2. Steinmetz, Sebald Rudolf (1907): Die Philosophie des Krieges. Leipzig: J. A. Barth; erweitert in: ders. (1929): Die Soziologie des Krieges. Leipzig: J. A. Barth. Zurück zum Text
3: Vgl. Bouthoul, Gaston (1962): Le phénomène-guerre. Méthodes de la polémologie. Paris: Éditions Payot; ders. (1961): „Fonctions sociologiques des guerres.“ In: Révue française de sociologie, Nr. 2, S. 15–21. Zurück zum Text
4: Bouthoul: Le phénomène-guerre. S. 12. Zurück zum Text
5. Zur zeitgenössischen Rezeption der Forschungen von Steinmetz in Japan siehe: Okamura, Shigeo (1943): Sensō shakaigaku kenkyū [Kriegssoziologische Forschungen]. Tōkyō: Nakagawa shobō. Zurück zum Text
6. Spreen, Dirk (2008): Krieg und Gesellschaft. Die Konstitutionsfunktion des Krieges für moderne Gesellschaften. Berlin: Duncker & Humblot, S. 15. Zurück zum Text
7. „Krieg und Gewalt sind Teile der Moderne und nicht nur ihrer Vorgeschichte.“ Joas, Hans (2000): Kriege und Werte. Studien zur Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts. Weilerswist: Velbrück, S. 67. Dazu außerdem: Joas, Hans u. Wolfgang Knöbl (2008): Kriegsverdrängung. Ein Problem in der Geschichte der Sozialtheorie. Frankfurt/Main: Suhrkamp. Zurück zum Text
8. Exemplarisch für den deutschen Fall etwa: Chickering, Roger (2007): The Great War and Urban Life in Germany. Cambridge: Cambridge University Press; Nübel, Christoph (2008): Die Mobilisierung der Kriegsgesellschaft. Propaganda und Alltag im Ersten Weltkrieg in Münster. Münster: Waxmann; für Japan: Kurasawa Aiko/ Sugihara, Tōru (Hg., 2006): Dōin, teikō, yokusan [Mobilisierung, Widerstand, Unterstützung]. Tōkyō. Iwanami shoten (= Ajia Taiheiyō sensō [Der Asiatisch-Pazifische Krieg], Bd. 3); dies. (Hg., 2007): Nichijo seikatsu no naka no sōryokusen [Der totale Krieg im Alltagsleben]. Tōkyō. Iwanami shoten (= Ajia Taiheiyō sensō [der Asiatisch-Pazifische Krieg], Bd. 6). Zurück zum Text
9. Etzioni, Amitai (1975): Die aktive Gesellschaft. Eine Theorie gesellschaftlicher und politischer Prozesse. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 407–409. Zurück zum Text
10. Exemplarisch: Beck, Ulrich (1993): Die Erfindung des Politischen. Zu einer Theorie reflexiver Modernisierung. Frankfurt/Main: Suhrkamp, S. 131–136. Zurück zum Text
11. Garon, Sheldon (1994): „Rethinking Modernization and Modernity in Japanese History.” In: The Journal of Asian Studies, Nr. 2, S. 346–366, hier: S. 348. Zurück zum Text
12. Zu einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Terminus „Moderne“ bzw. dem ihrer „Überwindung“ in Bezug auf das japanischen Beispiel auch in vergleichender Perspektive vor allem: Takeuchi, Yoshimi (2005): „Was bedeutet die Moderne? Der Fall Japan und der Fall China.“ In: ders.: Japan in Asien. Geschichtsdenken und Kulturkritik nach 1945. München: Iudicium, S. 9–54, ders.: „Die Überwindung der Moderne.“ In: a. a. O., S. 55–120. Zurück zum Text
13. Lange, Dirk (2003): Politische Alltagsgeschichte. Ein interdisziplinäres Forschungskonzept im Spannungsverhältnis von Politik- und Geschichtswissenschaft. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag, S. 18. Zurück zum Text
14. Wolfrum, Edgar (2003): Krieg und Frieden in der Neuzeit. Vom Westfälischen Frieden bis zum Zweiten Weltkrieg. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 81. Zurück zum Text
15. Tönnies, Ferdinand (1912): Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie. Berlin: Karl Curtius, S. 305. Zurück zum Text
16. Hier zumindest scheinen sich Analogien zur Historiographie des Nationalsozialismus zu zeigen: „Die Schwierigkeit der Historisierung der nationalsozialistischen Zeit besteht vor allem, immer noch, darin, dies zusammenzusehen und gleichzeitig auseinanderzuhalten: das Nebeneinander und die Interdependenz von Erfolgsfähigkeit und krimineller Energie, von Leistungsmobilisation und Destruktion, von Partizipation und Diktatur.“ Vgl. Broszat, Martin (1985): „Plädoyer für eine Historisierung des Nationalsozialismus.“ In: Merkur 39, S. 373–385, hier: S. 379. Wie wenig dieser Anspruch für Deutschland wie Japan bisher eingelöst wurde, zeigen Hettling, Manfred und Tino Schölz (2007): „Kako to no dansetsu to renzoku. 1945-nen irai no Doitsu to Nihon ni okeru kako to no torikumi“ [Distanz und Kontinuität. Vergangenheitsthematisierung in Japan und Deutschland im Vergleich]. In: Yōroppa kenkyū 6, S. 93–118. Zurück zum Text