Nachruf: Nishikawa Masao (1933–2008)? Presente! Persönliche Erinnerungen an einen bedeutenden Historiker
[Der japanische Volltext dieser Publikation steht Ihnen jetzt hier zum Download im PDF-Format zur Verfügung.]
Als ich an einem Dienstag im Januar 2008 aus Japan die überraschende und traurige Nachricht erhielt, daß Prof. Dr. Nishikawa Masao verstorben sei, hat mich das sehr betroffen gemacht. Nun wurde ich unlängst gebeten, zur Erinnerung an diesen bedeutenden Historiker einige Zeilen im Andenken an ihn und zu unserer Bekanntschaft zu schreiben. Dieser Bitte komme ich gerne nach, zumal ich in meiner bisherigen wissenschaftlichen Laufbahn außer ihm nur wenige Menschen getroffen habe, die mich gleichermaßen als Historiker wie als Persönlichkeit beeindruckt haben.
Mein erster Kontakt mit Prof. Nishikawa geht auf die Mitte der 1990er Jahre zurück. Eine Kollegin hatte sich anfangs bereit erklärt, die Übersetzung seines Buches „Daiichiji sekai taisen to shakaishugisha tachi“ zu übernehmen, mußte das Projekt dann aber wieder aufgeben. Da ich mich zum Abschluß meines Japanologiestudiums an der Universität Bonn mit dem japanischen Frühsozialismus beschäftigt hatte und über, nun sagen wir: zufriedenstellende, Japanischkenntnisse verfügte, fragte man bei mir an, ob ich mir vorstellen könne, ein japanisches Buch in die deutsche Sprache zu übersetzen, das sich mit dem europäischen Sozialismus in den beiden ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts beschäftigte. Da mein weiteres berufliches Fortkommen zu diesem Zeitpunkt noch völlig unklar war, nahm ich dieses Angebot mit großer Freude an. An einem regnerischen Wochenende traf ich in einem sehr schönen Hotel in Berlins bester Adresse, „Unter den Linden“, erstmals mit Prof. Nishikawa zusammen. Wir verbrachten einen sehr angenehmen Nachmittag mit anregenden Gesprächen – mal in deutscher, mal in japanischer Sprache – in einem nahegelegenen italienischen Restaurant. Hier war es auch, wo er mich erstmals überraschte. Dazu ist allerdings zuvor für einen fremdsprachlichen Leser, der nicht unbedingt der deutschen Sprache mächtig ist, eine kleine Erklärung zur Struktur der deutschen Sprache erforderlich. In der Anrede eines Gegenüber unterscheiden wir im Deutschen das eine gewisse Nähe und Vertrautheit ausdrückende, folglich also gewissermaßen eher „unhöflichere“ „Du“ mit dem respektvolleren aber gleichermaßen auch distanzierenden „Sie“. Während unseres Gesprächs im historischen Teil Berlins also fragte mich Prof. Nishikawa, ob wir uns nicht duzen wollten, denn schließlich habe doch die Studentenbewegung unter dem Studentenführer Rudi Dutschke des Jahres 1968 in Deutschland das Verhältnis von Professoren und Lernenden grundlegend verändert. Ich bin nicht alt genug, um beurteilen zu können, ob in den 1970er Jahren diese Aussage wirklich einmal Gültigkeit besaß, aber für die gesamte Zeit meines Studiums und lange darüber hinaus blieb er einer der wenigen Wissenschaftler, der mich mit diesem Angebot auszeichnete.
Mit diesem ersten Treffen begann eine lange, für mich außerordentlich interessante wie anspruchsvolle Zusammenarbeit an der Übersetzung seines Buches, die 1999 mit der Publikation der deutschen Ausgabe gekrönt werden konnte (1). Anders als die vergleichsweise niedrige Seitenzahl anfangs vermuten ließ, nahm diese Arbeit mehr Zeit als erwartet in Anspruch, da sich der Inhalt als Extrakt eines jahrzehntelangen intensiven Studiums deutscher, englischer, französischer, russischer, polnischer, niederländischer und japanischer Quellen durch Prof. Nishikawa erwies. Wer selbst schon in Archiven gearbeitet hat kann erahnen, wieviel Arbeit allein in der Recherche des Materials gesteckt haben muß. Die Fülle des verarbeiteten Archivmaterials – von den Protokollen der Internationalen Sozialistischen Kongresse, über die Memoiren führender zeitgenössischer Sozialisten bis hin zum Briefwechsel Rosa Luxemburgs, der sich Prof. Nishikawa in seinem wissenschaftlichen Werk besonders verbunden gefühlt zu haben scheint – war beeindruckend. Vieles, was sich als direktes Zitat im japanischen Ausgangstext fand, lag nur weltweit verstreut in Archiven oder eben in Kopie bei Herrn Nishikawa vor, so daß sich ein ständiger Kontakt – damals noch per Brief oder Fax – ergab. Stets traf ich auf das große Entgegenkommen Prof. Nishikawas, mir als Übersetzer die Arbeit zu erleichtern und mir die Dokumente unverzüglich zugänglich zu machen. Umso mehr freute es mich natürlich, daß in einer der wenigen Rezensionen, die zur deutschen Ausgabe dieses wichtigen Buches erschienen, der Rezensent vor allem die hohe wissenschaftliche Qualität dieser Publikation Prof. Nishikawas besonders würdigte (2).
Glücklicherweise riß der Kontakt nach der Fertigstellung der Übersetzung nicht ab. Während meiner Zeit als Doktorand am Deutschen Institut für Japanstudien in Tôkyô war Prof. Nishikawa so freundlich, mir eine Unterkunft in einer Wohnung anzubieten, die er in Mitaka unterhielt. Bei dieser Gelegenheit wie auch bei einem Forschungsaufenthalt als Gastwissenschaftler an der Senshû Universität auf Einladung Prof. Nishikawas einige Jahre später durfte ich auch die Gastfreundschaft des Ehepaars Nishikawa mehrfach genießen. Die interessanten Gespräche in einer sehr entspannten Atmosphäre werden mir unvergessen bleiben. Bei der Fertigstellung meiner Doktorarbeit (3) verdanke ich ihm zudem in vielerlei Hinsicht viel. Er stellte den Kontakt zu vielen japanischen Experten meines Forschungsthemas her und machte mich auf wichtige Veröffentlichungen aufmerksam.
Nicht zuletzt wegen meiner Übersetzung erhielt ich die Möglichkeit von 2001 bis 2008 als Wissenschaftlicher Mitarbeiter bzw. Wissenschafticher Assistent an der Universität Heidelberg tätig zu werden. Dort war ich vor allem für die Lehrveranstaltungen zur Geschichte Japans verantwortlich. Da sicher die japanischen Publikationen Prof. Nishikawas sehr viel besser von seinen japanischen Kollegen gewürdigt werden können, möchte ich in diesem Kontext vor allem eine von ihm herausgegebene Publikation in deutscher Sprache besonders erwähnen. Mit großem Interesse bearbeiteten meine Studierenden stets die von ihm und Prof. Miyachi Masato 1990 herausgegebene Studie zur Entwicklung Japans in der Zwischenkriegszeit (4). Die Problemstellung, ob man die Entwicklung Japans – vor allem zwischen 1927 und 1945 – als „faschistisch“ bezeichnen kann, bleibt weiterhin Gegenstand der wissenschaftlichen Debatte, zumindest in einem nicht-japanischen Kontext. Die genannte Publikation hat einen entscheidenden Beitrag dazu geleistet, mit Experten, die der japanischen Sprache nicht mächtig sind, in einen regen wissenschaftlichen Austausch zu treten, da in diesem Buch wichtige Ergebnisse der japanischen Forschung in deutscher Sprache präsentiert werden konnten.
Die Wirkung des Zufalls in der Historie zeigt sich auch in der persönlichen Biographie Prof. Nishikawas. Viele werden wissen, daß er am Ende der 1950er Jahre inmitten der Auseinandersetzungen um die Revision des „Amerikanisch-Japanischen Sicherheitsvertrages“ vor allem deshalb in die USA ging, da die Finanzierung für einen Forschungsaufenthalt in Europa angesichts der hohen Wechselrate des Yen für einen Japaner nahezu unbezahlbar war (5). Diese Weichenstellung führte ihn mit seinem Lehrer, George W. F. Hallgarten, zusammen und wurde für seine spätere wissenschaftliche Arbeit bestimmend. Durch diese Persönlichkeit aus dem Umfeld Thomas Manns wurde die Entwicklung des „Imperialismus“ in seiner gleichermaßen europäischen wie ostasiatischen Variante einer seiner wichtigsten Forschungsbereiche (6). Als vor allem durch das Engagement einer jüngeren Generation von Historikern in Deutschland die Verstrickung führender Vertreter des Faches in der Nachkriegszeit, wie z.B. Werner Conze oder Theodor Schieder, in den Nationalsozialismus kontrovers diskutiert wurde (7), brachte Prof. Nishikawa mir gegenüber mehrfach zum Ausdruck, wie glücklich er war, daß ihn das Schicksal nicht nach Deutschland, sondern in die USA geführt hat.
Diese Genugtuung als Ausdruck eines eigenen, klaren, durchaus auch politischen Standpunktes als Kontrapunkt zur gelegentlichen Beliebigkeit anderer Historiker bringt mich abschließend zum wissenschaftspolitischen Engagement Prof. Nishikawas, das mich stark beeindruckt. Hier ist nicht der Ort, alle wichtigen Funktionen aufzuzählen, die Prof. Nishikawa im Laufe seiner wissenschaftlichen Karriere innehatte. Verwiesen sei in diesem Kontext nur auf den Versuch, auch international den Bemühungen einer sogenannten „Revision eines masochistischen Geschichtsbildes“ durch die „Atarashii rekishi kyôkasho o tsukuru kai“ eine Resolution einer internationalen Gruppe namhafter Historiker entgegenzusetzen. Als Historiker, der zugleich auch immer ein engagierter und begeisterter Lehrer war, war die Frage der Geschichtsausbildung ein außerordentlich wichtiges Anliegen. Dieses zeigt sich auch in den nicht zuletzt von Prof. Nishikawa und seinen Mitstreitern unternommen Bemühungen, mit Historikern Koreas in einen wissenschaftlichen Dialog nach dem Vorbild der deutsch-polnischen und deutsch-französischen Schulbuchgespräche einzutreten.
Wenn man das Vorwort zum letzten großen wissenschaftlichen Werk Prof. Nishikawas (8) liest, wird deutlich, daß er als Historiker in Zeiten, in denen eine sozialdemokratische politische Kraft in Japan nahezu vollständig in der Bedeutungslosigkeit versunken zu sein scheint, sich hat niemals von einem historisch begründeten Pessimismus infizieren lassen, sondern weiterhin auf die gesellschaftspolitische Bedeutung jener Errungenschaften der französischen Revolution – Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – auch in den Globalisierungsprozessen des 21. Jahrhunderts vertraute.
Prof. Nishikawa fehlt wohl uns allen als qualifizierter Gesprächspartner. Der Publizist und Aphoristiker Johannes Gross beschreibt jedoch in einer Reminiszenz eine alte Übung der italienischen Armee. Diese Armee ließ beim zeremoniellen Appell auch die Namen der gefallenen Kameraden zu deren Ehren aufrufen, wobei die ganze Kompanie antwortete: presente! (Ital. = anwesend) (9) „Nishikawa Masao?“, möchte man fragen. Presente!
Fußnoten:
1: Nishikawa, Masao (1999): Der Erste Weltkrieg und die Sozialisten. Aus dem Japanischen von Maik Hendrik Sprotte. Bremen: Edition Temmen. zurück zum Text
2: Materna, Ingo (2000): Rezension zu: Nishikawa Masao (1999): Der Erste Weltkrieg und die Sozialisten. Bremen: Edition Temmen. In: Internationale wissenschaftliche Korrespondenz der deutschen Arbeiterbewegung (IWK), Nr. 3, S.414–415. zurück zum Text
3: Sprotte, Maik Hendrik (2001): Konfliktaustragung in autoritären Herrschaftssystemen. Eine historische Fallstudie zur frühsozialistischen Bewegung im Japan der Meiji-Zeit. Marburg: Tectum. zurück zum Text
4: Nishikawa, Masao / Miyachi Masato (Hg., 1990): Japan zwischen den Kriegen. Eine Auswahl japanischer Forschungen zu Faschismus und Ultranationalismus. Hamburg: Gesellschaft für Natur und Völkerkunde Ostasiens. zurück zum Text
5: Nishikawa, Masao (2005): „„Gendai-shi kenkyû“ no 50-gô hakkô ni sai shite.“ (Anläßlich der 50. Ausgabe der Gendai-shi kenkyû). In: Gendai-shi kenkyû, Nr. 51, S. 65–73, hier: S. 70–71. zurück zum Text
6: Vgl. beispielsweise: Nishikawa, Masao (1976): „Zivilisierung der Kolonien oder Kolonisierung durch Zivilisation? Die Sozialisten und die Kolonialfrage im Zeitalter des Imperialismus“. In: Radkau, Joachim u. Imanuel Geiss: Imperialismus im 20. Jahrhundert. Gedenkschrift für George W. F. Hallgarten. München: C. H. Beck, S. 87–112. zurück zum Text
7: Diese Frage war vor allem auf dem Historikertag 1998 ein wichtiges Thema. Vgl.: Schulze, Winfried / Oexle, Otto Gerhard (Hg., 1999): Deutsche Historiker im Nationalsozialismus. Unter Mitarbeit von Gerd Helm und Thomas Ott. Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch Verlag. zurück zum Text
8: Nishikawa, Masao (2007): Shakaishugi intânashonaru no gunzô, 1914–1923. (Portrait der Sozialistischen Internationale, 1914–1923). Tôkyô: Iwanami shoten. zurück zum Text
9: Gross, Johannes (1999): Nachrichten aus der Berliner Republik, 1995–1999. Berlin: BvT, S. 14. zurück zum Text