In der Arbeitspapierreihe des Internationalen Graduiertenkollegs „Formenwandel der Bürgergesellschaft. Japan und Deutschland im Vergleich“ (Universität Halle-Wittenberg und Universität Tôkyô) ist gerade ein längerer Text von mir erschienen, in dem ich mich unter dem Titel „Zivilgesellschaft als staatliche Veranstaltung? Eine Spurensuche im Japan vor 1945″ mit den historischen Wurzeln der japanischen Zivilgesellschaft auseinandersetze.
In meinem Diskussionsbeitrag trete ich für eine nachhaltigere Berücksichtigung historischer Prozesse in der sozial- und politikwissenschaftlichen Forschung zu Japan ein. Es scheint zu kurz zu greifen, die Existenz einer japanischen Zivilgesellschaft mit den Argumenten einer im Japan der Zeit verbreiteten „Tradition des Respekts für die Autorität und der Geringschätzung des Volkes“ (kanson minpi 官尊民卑) und eines Prinzips „der Selbstaufopferung für das Gemeinwohl“ (messhi hôkô 滅私奉公) infrage zu stellen. Dies gilt auch dann, wenn man unter dem Gesichtspunkt einer Berücksichtigung der Unterstützung des zeitgenössischen Herrschaftssystems durch breite gesellschaftliche Schichten, die sich partiell in Organisationen zusammenfanden, die meiner Interpretation nach als zivilgesellschaftliche kategorisiert werden können, nur eingeschränkt zivilgesellschaftstheoretische Annahmen zur Staatferne und Gewaltfreiheit unter Berücksichtigung von Zeit und Raum in Anwendung bringen kann.
Neben der Frage nach der Existenz einer japanischen Öffentlichkeit (kôkyôsei 公共性) in der japanischen Geschichte vor 1945 erörtere ich in meinem Text die rechtlichen Rahmenbedingungen der Zeit hinsichtlich möglicher Formen der Vergemeinschaftung und zeige am Beispiel des Russisch-Japanischen Krieges (1904/05), daß es eine Fülle von zivilgesellschaftlichen Organisationen gab, die in der Analyse nicht ausschließlich normativen Erwartungen einer Demokratisierung des Herrschaftssystems entsprechen, sondern die vielmehr herrschaftsstabilisierend und gelegentlich auch durchaus, auf einen potentiellen (ausländischen) Gegner gerichtet, gewalthaft im Sinne einer „robuste(n) Kette von Befestigungswerken und Kasematten“ (nach Antonio Gramsci) zur Verteidigung nationaler Interessen wirkten.
Durch die Berücksichtigung den Staat stützender Organisationen als Varianten zivilgesellschaftlicher Vergemeinschaftung ließen sich meiner Ansicht nach für die Zeit vor 1945 differenziertere Aussagen über die Rolle und die Handlungsspielräume der Untertanen des Tennô, die zugleich auch immer Staatsbürger waren, und somit über die Qualität der Staat-Bürger-Beziehungen in historischer Perspektive treffen.
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