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Die Zeitenwende
Die Abdankung des gegenwärtigen Tennô und die Thronbesteigung des Kronprinzen in Japan stehen unmittelbar bevor. Mit der Bekanntgabe der ab 1. Mai 2019 gültigen, neuen Regierungsdevise (gengô 元号) des dann neuen Tennô sind die Vorbereitungen der Abdankung des gegenwärtigen Tennô und der Thronbesteigung seines Sohnes, des gegenwärtigen Kronprinzen, auf die Zielgerade gelangt. Am 1. April 2019 gab der Kabinettssekretär Suga Yoshihide 菅義偉, in seiner Funktion innerhalb der japanischen Regierung etwa dem Kanzleramtschef vergleichbar, bekannt, welcher neuen Zeitrechnung Japan ab Mai folgen wird:
Aus dem 31. Jahr Heisei (平成31年) wird am 1. Mai 2019 das 1. Jahr Reiwa (令和元年). Es handelt sich um die 248. japanische Regierungsdevise seit der Übernahme dieses Systems der Zeitrechnung aus dem Alten China mit dem Motto „Taika“ 大化, der „großen Reform“, im Jahr 645. Verbunden wurde über Jahrhunderte mit diesen Motti generell die Annahme, daß für eine begrenzte Zeit dieser Kombination chinesischer Schriftzeichen ein Guthaben an Glück, Wohlstand und verheißungsvoller Entwicklung des japanischen Gemeinwesens innewohne. Zudem dienten sie dazu, in wenigen Schriftzeichen ein politisches Programm, wenn auch eher allgemeinerer Natur, zu repräsentieren. Schien es bis zur sogenannten Meiji-Restauration 1868 auch erforderlich, die Regierungsdevise noch in der Herrschaftszeit eines Tennô, gelegentlich auch mehrfach, zu ändern, weil jenes Guthaben aufgrund von Naturereignissen wie Erdbeben, Taifunen, Missernten oder Seuchen aufgebraucht zu sein schien, gilt ab dem Eintritt Japans in die Moderne die Regelung, daß pro Tennô nur noch eine Regierungsdevise für seine gesamte Herrschaftszeit Verwendung findet. Die Grundlage dieser Prämisse bildet das „Kaiserliche Dekret [bezüglich] einer Devise für ein Zeitalter“ (issei ichigen no mikotonori 一世一号の詔) vom 8. Tag des 9. Monats im 4. Jahr Keiô (慶応4年9月8日 / 23.10.1868), mit dem der Äraname „Meiji“ 明治, die „erleuchtete Regierung“, für die gesamte Herrschaftszeit des 122. Tennô (in einer erst in dieser Epoche erarbeiteten, nunmehr aber verbindlichen Genealogie japanischer Kaiser unter Auslassung gewisser „Gegenkaiser“ vor allem im Zeitalter des Schismas im japanischen Kaiserhaus zwischen 1336 und 1392) festgelegt wurde. Es etablierte sich damit zugleich der Usus, diese eine Regierungsdevise in der Namensgebung eines Tennô nach seinem Ableben zu verwenden:
- Meiji 明治, „erleuchtete Regierung“ – der Meiji Tennô 明治天皇 (Geburtsname Mutsuhito 睦仁, 1852–1912, Tennô von 1867 bis 1912);
- Taishô 大正, „große Gerechtigkeit“ – der Taishô Tennô 大正天皇 (Geburtsname Yoshihito 嘉仁, 1879–1926, Tennô von 1912 bis 1926);
- Shôwa 昭和, „leuchtender Friede“ – der Shôwa Tennô 昭和天皇 (Geburtsname Hirohito 裕仁, 1901–1989, Tennô von 1926 bis 1989);
- Heisei 平成, „Friede überall“ – der gegenwärtige Tennô (Geburtsname Akihito 明仁, geb, 1933, Tennô seit 1989);
Die rechtlichen Grundlagen
Der Wechsel einer neuen Regierungsdevise erfolgt im demokratischen Japan auf der Grundlage gesetzlicher Regelungen, die am Ende der 1970er Jahre getroffen worden sind. Bis zur Inkraftsetzung des (zweiten) Kaiserlichen Hausgesetzes (kôshitsu tenpan 皇室典範) 1947 regelte dessen Vorläufer von 1889 auch den Wechsel einer Regierungsdevise (nach dem Tod des Monarchen). Nach der Niederlage Japans im Asiatisch-Pazifischen Krieg wurde der entsprechende Paragraph ersatzlos gestrichen, ohne eine alternative Regelung zu treffen. Angesichts des damals durchaus schon hohen Lebensalters des Shôwa Tennô wuchs in der Liberaldemokratischen Partei das Bedürfnis, auch hinsichtlich der Regierungsdevise auf einen möglichen Thronwechsel vorbereitet zu sein. Diesem Bedürfnis trug man mit der Verabschiedung des „Regierungsdevisengesetzes“ (gengô-hô 元号法) vom 6. Juni 1979 Rechnung. Mit dem Gesetz wurde bestimmt, daß der Wechsel eines Äranamens durch Regierungsverordnung erfolge und ausschließlich im Falle eines Thronwechsels durchgeführt werden dürfe.
Herkunft der neuen Regierungsdevise
Die Wahl der neuen Regierungsdevise „Reiwa“ erschien zunächst quasi revolutionär, als sofort die japanischen Medien berichteten, diese Regierungsdevise sei erstmals in der Jahrtausende langen Geschichte dieses Systems nicht den chinesischen Klassikern entnommen worden, sondern entstamme der japanischen Gedichtsammlung Man’yôshû, die um das Jahr 759 kompiliert wurde und Gedichte enthalten soll, die zwischen 600 und 750 entstanden. Schon bei der Wahl der Regierungsdevise „Heisei“ 1989 zeigten sich sich japanische Literaturwissenschaftler enttäuscht, daß bei der Auswahl die japanische Literatur nicht berücksichtigt worden und wieder einmal der klassischen Literatur Chinas der Vorrang gegeben worden sei. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, als habe die japanische Regierung bewußt ein japanisches Vorbild für eine neue Devise gesucht. Nachdem, was man gegenwärtig in den sozialen Netzwerken und auf japanologischen Mailinglisten lesen kann, ist diese Herkunft bereits am Tag der Bekanntgabe dieses neuen Mottos widerlegt worden: Die der Auswahl zugrundeliegende Textstelle findet sich in identischer Form in einem Gedicht des Universalgelehrten Zhang Heng 張衡 (78–139).
Noch ist die tatsächliche Bedeutung dieser Devise undeutlich. Es bieten sich zahlreiche Interpretationsmöglichkeiten.
時に、初春の令月にして、気淑く風和ぎ
Zu Beginn des Frühlings im zweiten Monat war die Luft rein und der Wind friedvoll.
Vor allem wegen der Interpretation des ersten Zeichens 令 wird noch abzuwarten sein, bis sich der Sinn dieser Wahl genauer offenbart. Das Zeichen bedeutet zunächst anordnen, befehlen, anweisen. Nun mag möglicherweise der Frieden angewiesen werden sollen. Gleichwohl hat es auch eine gewisse Überzeugungskraft, eines der Übersetzungsangebote für den „zweiten Monat“ 令月 mit „genau der richtige Zeitpunkt“ in Erwägung zu ziehen, da sich so weitere, weniger hierarchische Interpretationsmöglichkeiten eröffnen. So mag mit dieser Kombination chinesischer Schriftzeichen auch ausgedrückt werden, daß es nunmehr genau der richtige Zeitpunkt sei, die Harmonie zu verwirklichen.
Ministerpräsident Abe Shinzô 安倍晋三 verbindet, wie er in einer persönlichen Erklärung deutlich machte, mit dieser neuen Regierungsdevise die Hoffnung, daß sie helfen möge, „Japans lange Geschichte, die edle Kultur und die schöne Natur jeder der vier Jahreszeiten, jenen Nationalcharakter Japans ausdrücklich an die nächste Generation weiterzugeben“. Eine Spur zu kurz mag in diesem Kontext der Sachverhalt einer aus Vergangenem erwachsenden Verantwortung gekommen sein.
Wenn auch das Schriftzeichen rei 令 (Gesetz, Verordnung, Befehl, Haupt‑, gut) erstmals für eine Regierungsdevise verwendet wurde, gebrauchte man wa 和 (Frieden, Harmonie) nunmehr zwanzig Mal in den 248 Regierungsdevisen, für die insgesamt nur auf ein Reservoir von 73 verheißungsvollen chinesischen Schriftzeichen zurückgegriffen wurde. Letztmalig wurde das Schriftzeichen wa für die Regierungsdevise des Shôwa Tennô – 昭和 – verwendet, was ideengeschichtlich die Absicht einer gewissen Kontinuität bzw. (nostalgischen?) Rückbesinnung nahelegt. Angesichts der „unruhigen / bewegten Shôwa-Zeit“ (gekidô no Shôwa 激動の昭和), die von 1926 bis 1989 dauerte, ist sicherlich zu fragen, welches Geschichtsverständnis dieser Absicht zugrunde liegen könnte.
Kritik an diesem System der Zeitrechnung?
Ein für ein Gemeinwesen so wichtiges System wie das einer Zeitrechnung bleibt natürlich nicht ohne Kritik. Anders aber als noch 1989, als mit dem Ableben des Shôwa Tennô der Wechsel jenes Mottos eines „leuchtenden Friedens“ erforderlich wurde, richtet sich die Kritik heute weniger gegen das System als solches, sondern fragt eher nach der Praktikabilität einer nur in Japan gültigen Zeitrechnung, die nach wie vor amtlich auf Rathäusern verpflichtend zu verwenden ist, im Zeitalter der Globalisierung und eines international eng vernetzten Japans im 21. Jahrhundert. Schon in der von langer Hand vorzubereitenden Drucklegung der Kalender für das Jahr 2019 mußten die Verlage nolens volens auf die Nennung einer Regierungsdevise verzichten, da sie noch nicht bekannt war. Die öffentlichen Einrichtungen zeigen sich gleichwohl zuversichtlich, daß die Umstellung der Computersoftware bis Anfang Mai reibungslos vonstattengehen kann. In persönlichen Gesprächen ließ sich aber nicht völlig der Eindruck vermeiden, daß das Land durch die vergleichsweise kurzfristige Bekanntgabe der Regierungsdevise unmittelbar vor ihrer Gültigkeit stagniere, da wichtige Dokumente, operative Planungen von Unternehmen und Bildungseinrichtungen für den Jahreslauf etwa, ohne Nennung der Devise für das Jahr 2019 noch gar nicht veröffentlicht werden konnten.
Wenngleich es auch in Japan eine antimonarchische Bewegung gibt, deren gesellschaftliche Reichweite dennoch stark eingeschränkt zu sein scheint, ist aber eine fundamentale Kritik am System der Regierungsdevisen, wie sie sich in den ausgehenden 1970er Jahren anläßlich des parlamentarischen Gesetzgebungsverfahrens beim „Gesetz der Regierungsdevise“ und dann wieder unmittelbar nach dem Tod des Shôwa Tennô im Januar 1989 äußerte, nur gelegentlich zu vernehmen. Damals spielten historische Ereignisse der Shôwa Zeit (1926–1989), etwa jenseits des wirtschaftlichen Erstarkens des Landes ab den 1950er Jahren als Erfolgsgeschichte des demokratischen Japan der Asiatisch-Pazifische Krieg (1931–1945) mit seinen verheerenden Folgen für die Nationen Ostasiens, der politisch wie wissenschaftlich damals stark diskutierten Frage einer (möglichen) Kriegsschuld oder doch Mitverantwortung des Shôwa Tennô und die veränderte Funktion des Kaiserhauses im japanischen Staat mit dem auf ein „Symbol des Staates und der Einheit des japanischen Volkes“ reduzierten Tennô, eine entscheidende Rolle im Urteil linksliberaler Intellektueller. So erneuerte der Historiker Inoue Kiyoshi 井上清 (1913–2001) gleich zu Beginn des Februar 1989 in einer umfangreichen Publikation [s]eine „Kritik des Systems der Regierungsdevisen“, wie sie bereits im Kontext des Gesetzgebungsverfahrens am Ende der 1970er Jahre vertreten worden war. Er forderte dazu auf, dieses System vollständig aufzugeben, da es in einer stark gekürzten Zusammenfassung seiner Argumentation zentralen Bestimmungen der japanischen Verfassung, hier vor allem jener bezüglich des Sitzes der Souveränität, die seit 1947 beim japanischen Volk angesiedelt war, widerspreche. Durch die Beibehaltung eines Systems an die Herrschaftszeit eines Kaisers gebundener Regierungsdevisen werde die Position des Monarchen im demokratisierten Gemeinwesen unangemessen erhöht.
„Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“
Wenn auch die jüngste Bekanntgabe der japanischen Regierung, die diplomatischen Vertretungen des Landes per Fax (!) über die neue Regierungsdevise informieren zu wollen, in den sozialen Netzwerken in den letzten Tagen für einige Häme hinsichtlich dieser doch für ein Hochtechnologieland wie Japan überraschenden Vorgehensweise sorgte, scheint das Land doch weitgehend positiv diesem Wechsel seiner Zeitrechnung entgegenzusehen. Gegenwärtig genießt man in weiten Teilen des Landes die Kirschblüte und tut es in dem nicht zuletzt stets von den Medien betonten Wissen, dies „ein letztes Mal in der Heisei-Zeit“ zu tun. Gleichwohl lassen die politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahre nicht viel Spielraum für eine wirkliche Euphorie. Auch Japan drücken jene Sorgen, die wir selbst nur allzu gut aus eigener Beobachtung deutscher Politik kennen: Wie ein Rentensystem sichern? Wie die Pflege angesichts einer stetig steigenden Lebenserwartung garantieren? Doch einen Mindestlohn einführen? Wie die internationale Rolle Japans mit Inhalt füllen? Ob und in welchem Umfang das Guthaben der neuen Regierungsdevise auf die Beantwortung dieser Fragen klärend wirken kann, vermag der Historiker nicht vorherzusehen. Dazu ist seine Kristallkugel, wie stets, zu trübe.
Nachtrag (03.04.2019):
Die Botschaft Japans in der Bundesrepublik folgt mit „schöne Harmonie“ selbstredend der am 3. April 2019 veröffentlichten englischen Übersetzung „beautiful harmony“ dieser Regierungsdevise durch das japanische Außenministerium. Auf ihrer Internetseite führt die Botschaft zudem weiter aus, dieser Äraname inkorporiere die Bedeutung „Kultur wird begründet und gedeiht, wenn Menschen ihre Herzen in schöner Weise zusammenführen.“