Ringvorlesung: Schwerpunkte der Heidelberger Japanologie
(gemeinsam mit Prof. Dr. W. Schamoni, Prof. Dr. W. Seifert, A.-B. Wuthenow M.A., Dr. M. Metzler u. Dr. A. Takenaka)
Im Rahmen einer Ringvorlesung zu den wissenschaftlichen „Schwerpunkten der Heidelberger Japanologie“ hielt ich einen Vortrag mit dem etwas verschlungenen Titel „Sicherheitsinteresse oder Machtkalkül? Die Konzeption innerer Sicherheit und ihr Einfluß auf die Entwicklung des Frühsozialismus der Meiji-Zeit“.
Hier zunächst ein Auszug aus meinem Vortragskonzept:
„Als wir uns im Kollegenkreis über den möglichen Inhalt eines Vortrages im Rahmen der Ringvorlesung „Schwerpunkte der Heidelberger Japanologie“ unterhielten, hieß es, man solle auch sein Verständnis davon einfließen lassen, was Japanologie, oder in meinem Fall vielleicht besser die historische Japanforschung, eigentlich sei. Als Folge dieses zunächst so einfach klingenden Vorschlags sah ich mich unvermindert der Schwierigkeit ausgesetzt, ein mir nahezu selbstverständliches Interesse, ja eine gelegentliche Begeisterung für historische Fragestellungen und Prozesse, in Worte fassen zu sollen. „Was ist Geschichte?“ fragte bereits Edward Hallet Carr Anfang der 60ger Jahre, und ich begann mich, diese große Fragestellung auf ein zumindest für mich beantwortbares Niveau herunterschraubend, zu fragen, was denn eigentlich Geschichte – zunächst ganz allgemein – für mich sei. In einem zweiten Schritt sollte es mir dann leichter fallen, diesem Definitionsversuch den „japanischen“ Aspekt hinzuzufügen. Mit dieser Fragestellung also beschäftigt, erinnerte ich mich an den Auszug aus einem Essay Walter Benjamins, der unter dem Titel „Über den Begriff der Geschichte“ 1940, also im Jahr seines Freitods an der französisch-spanischen Grenze in Erwartung des unmittelbaren Eintreffens der deutschen Truppen, publiziert wurde und der mich unlängst, als quasi-intellektuelle Wanddekoration in Form eines Posters im Vorraum eines Theaters ganz unerwartet in seinen Bann gezogen hatte. Da hieß es also als 9. These des genannten Aufsatzes:
„Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“
Selbst – Weiß Gott! – kein Engel, sind es auch für mich diese Katastrophen, die partiell bis in die Gegenwart wirken, und die Fragen, wie es zu diesen kommen konnte, die mich in der Geschichte fesseln. Zugleich aber, und hier verlasse ich den aus der Zeit und der persönlichen Leidensgeschichte Benjamins für mich durchaus schlüssig zu erklärenden Pessimismus des Schriftstellers und seine Verbundenheit mit einem sicher eher marxistisch zu nennenden Geschichtsverständnis, sind es die beständigen, hohen, schmuckvollen Gebäude, reich verziert mit einer Vielzahl von, gelegentlich auch zukunftsweisenden, Erkenntnissen, die uns – sicherlich etwas zu pathetisch formuliert – die Gegenwart verstehen und die Zukunft gestalten helfen können.
Die Bestandteile, die diese eher allgemeine Sichtweise auf die Geschichte und die Geschichtsforschung zu einer historischen Japanforschung transformieren, sind – dem Satz des britischen Historikers George Macauley Trevelyans folgend, Geschichte sei eine Mischung aus Wissenschaft (Forschung), Phantasie oder Spekulation (Interpretation) und Literatur (Darstellung):
(1) die durch unabdingbare sprachliche Fähigkeiten im Japanischen sicherzustellende Befähigung, dicht an den japanischen Quellen arbeiten zu können; dies gilt umso mehr, als es ausreichende Sprachkenntnisse allein im Sinne eines einwandfreien methodischen Vorgehens gewährleisten, das Maß an Spekulation innerhalb der Forschungsarbeit auf einen erträglichen Umfang zu reduzieren
und
(2) die Absicht, das japanische Moment in den historischen Entwicklungen Japans im besonderen und Ostasiens im Allgemeinen herauszuarbeiten – notabene ohne diese Charakteristika zu exotisieren oder gar unangemessen überzubewerten.“
Nach diesen eher allgemeinen Einlassungen ging es in meinem Vortrag um:
♦ die von der Geschichts- und Politikwissenschaft erarbeiteten theoretischen Annahmen zur Entstehung von Strukturen Innerer Sicherheit: Der modernisierungstheoretische, konflikthheoretische und herrschaftstheoretische Ansatz.
♦ die Strukturen der Inneren Sicherheit im Japan der Meiji-Zeit: die Amtliche Ordnung des Polizeiamtes (keisatsuryô shokusei, 1874), die Verordnung der Verwaltungspolizei (gyôsei keisatsu kisoku, 1875), die Versammlungsverordnung (shûkai jôrei, 1880), die Sicherheitsverordnung (hoan jôrei, 1887), das Versammlungs- bzw. Vereinsgesetz (shûkai oyobi seisha-hô, 1890) und das Gesetz der Polizei für öffentliche Sicherheit (chian keisatsu-hô, 1900).
♦ um eine Chronologie des japanischen Frühsozialismus in der Meiji-Zeit im Wechselspiel mit den obengenannten Sicherheitsverordnungen.
(Sommersemester 2003)