Nicht wie bisher üblich am 12. Dezember, dem „Tag des chinesischen Schriftzeichens“, sondern etwas verspätet wurde heute das japanische „Schriftzeichen des Jahres“ (kotoshi no kanji 今年の漢字) 2015 bekannt gegeben. Wie schon in den Vorjahren hatte die „Japanische Gesellschaft zur Überprüfung der kanji–Fähigkeit“ (Nihon kanji nôryoku kentei kyôkai 日本漢字能力検定協会) landesweit Vorschläge für ein chinesisches Schriftzeichen eingeworben, das die vielschichtigen Entwicklungen Japans im Jahr 2015 repräsentiere. Von insgesamt abgegebenen 129.647 fiel mit 5.632 Stimmen (= 4,3 %) die Wahl auf das Schriftzeichen 安 mit den Lesungen an / yasu[-i] - yasun[-jiru] – izu[-kunzo] sowie seinen Bedeutungen „sicher“, „friedlich“, „bequem“ und „billig“. Wie schon seine Vorgänger der Jahre 2013 und 2014 und wie das „Schriftzeichen der Zukunft“ (mirai no kanji 未来の漢字) wurde das diesjährige chinesische Siegerzeichen auch in einer kalligraphischen Zeremonie im Kiyomizu-dera (清水寺) vom Vorstand dieses buddhistischen Tempels Mori Seihan 森清範 der Öffentlichkeit vorgestellt.
Begründet wird diese Wahl zunächst erwartungsgemäß mit der öffentlichen Diskussion der von der Regierung des Ministerpräsidenten Abe Shinzôs („A“-be seiken 「安」倍政権) im Parlament eingebrachten „Mit den „Sicher“-heitsgarantien in Zusammenhang stehender Gesetzentwürfe“ („an“-zen hoshô kanren hôan 「安」全保障関連法案) im Kontext eines von Abe postulierten „kollektiven Selbstverteidigungsrechts“ (shûdanteki jieiken 集団的自衛権) als Neuorientierung der bisher auf strikten Pazifismus ausgelegten Sicherheitsdoktrin des Landes. Durch den heftigen innerparlamentarischen Zusammenstoß von Regierungs- und Oppositionsparteien im Gesetzgebungsverfahren, besonders aber durch Großveranstaltungen und Massendemonstrationen der Befürworter und Gegner der Gesetzesänderungen in der Umgebung des Parlamentsgebäudes sowie landesweit sei die Zweiteilung der öffentlichen Meinung deutlich geworden. Dadurch sei das Jahr 2015 eines gewesen, in dem sich durch diese Abstimmung das Interesse der japanischen Bevölkerung an Sicherheitsfragen erhöht habe. Anläßlich des 70. Jahrestages des Endes des Asiatisch-Pazifischen Krieges habe man zudem über die zukünftige „ ‚Sicher‘-heit des Landes“, den „ ‚Frieden‘ des Landes“ (kuni no hei-„an“ 国の平「安」) nachgedacht.
Zugleich habe sich 2015 als ein Jahr erwiesen, in dem Terroranschläge durch Organisationen radikaler Islamisten, wie etwa die Fälle der Entführung und Enthauptung japanischer Staatsangehöriger durch den Islamischen Staat oder die Terroranschläge von Paris, die „Sicherheit der Menschen in der Welt“ (sekaijû no hitobito no „an“-zen 世界中の人々の「安」全) fortlaufend bedrohten. Zugleich hätten global durch außergewöhnliche Wetterbedingungen verursachte Naturkatastrophen die Menschen in Unsicherheit (fu-„an“ 不「安」) versetzt.
Einem dritten Themenkomplex entspringt die Wahl dieses Schriftzeichens: dem Wunsch nach „Sorgenfreiheit“ bzw. „Friedlichkeit“ („an“-shin 「安」心). Sich häufende Fälle, in denen Fälschungen der statischen Berechnungen bzw. unzureichende Fundamente von Appartmenthäusern offenbar werden, verschlimmerten ein Gefühl der Un-„sicher“-heit im direkten Lebensumfeld der japanischen Bevölkerung. In gleicher Weise wirkten Verletzung der Abgasvorschriften durch ausländische Autohersteller, aber auch die „Unregelmäßigkeiten in der Herstellung von Impfstoffen“ (wakuchin seizô ni kakaru fusei ワクチン製造にかかる不正) eines japanischen Pharmaunternehmens. Eher in den Hintergrund mag im Kontext der „Sorgenfreiheit“ hier ein 2015 im japanischen Fernsehen sehr beliebter Satz eines Comedians, des „Jedenfalls fröhlichen Yasumura“ (tonikaku akarui Yasumura とにかく明るい安村), treten, der aber gleichwohl als Grund für die Wahl genau dieses Schriftzeichens genannt worden ist: Nur mit einer knappen Badehose bekleidet, nimmt er Körperhaltungen ein, die den Eindruck entstehen lassen, er sei nackt, um dem dann möglicherweise erleichterten Publikum anschließend mitzuteilen: „Seien Sie beruhigt. Ich habe sie (= eine Hose) an!“ („an“-shin shite kudasai, haitemasu yo 「安」心して下さい、穿いてますよ。)
Auf dem 2. Rang bei der Wahl des diesjährigen repräsentativen Schriftzeichens landete mit 4.929 Stimmen 爆 (baku – haku – hô / ha[-zeru] – sa[-keru]) mit Bedeutungen wie „sprengen“, „aufplatzen“, „sich spalten“. Zu dieser Wahl führten der so genannte „Kaufrausch“ („baku“-gai 「爆」 買い) ausländischer, vornehmlich chinesischer, Touristen, die „ ‚explosionsartige‘ Erruption [des Vulkans Shindake auf] der Insel Kuchinoerabu“ am 29. Mai 2015 (Kuchinoerabu-jima no funka „baku“-hatsu 口永良部島の噴火 「爆」発), die Bombenanschläge von Paris, der 70. Jahrestag der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki, die durch eine „explosionsartige Vertiefung des Kerndrucks von Stürmen“ entstandenen Naturkatastrophen dieses Jahres („baku“-dan teikiatsu ni yoru tensai 「爆」弾低気圧による天災) und die explosionsartig anstiegene Beliebtheit des Rugby in Japan, nicht zuletzt wegen der Anfangserfolge der japanischen Nationalmannschaft bei der diesjährigen Rugby-Union-Weltmeisterschaft in England.
Den dritten Platz erreichte mit 4.556 Stimmen das Schriftzeichen 戦 (sen / ikusa – tataka[-u] – onono[-ku] – soyo[-gu]) mit der Bedeutung „Kampf“. Fast scheint es, als glichen die Beweggründe, sich für dieses Schriftzeichen zu entscheiden, denen für das Sieger-Schriftzeichen. Der Kampf um die Meinungshoheit in der Auseinandersetzung um die neue japanische Sicherheitsordnung, die Erinnerung an den Asiatisch-Pazifischen Krieg und der Kampf gegen den Terror wurden am häufigsten als Begründung für die Wahl dieses Schriftzeichens genannt. Gleichermaßen begeisterte aber auch der „Kampfgeist“ („tataka“-iburi 「戦」 いぶり) von Athleten wie etwa den japanischen Rugbyspielern.
In diesem Jahr mag sich die Wahl des Schriftzeichens für Sicherheit, auch – in seiner deutschen Doppeldeutigkeit – für Bequemlichkeit, zum schriftlichen Repräsentanten des Jahres 2015 als geradezu seherisch erweisen. Die außerparlamentarische Opposition ist bisher den Beweis schuldig geblieben, langfristige gesellschaftliche Reformprozesse angestoßen zu haben. Die parlamentarische Opposition bleibt schwach und uneins. Es ist abzuwarten, ob die japanische Wählerschaft in den bevorstehenden Wahlen wieder auf Nummer sicher gehen und der regierenden Liberaldemokratischen Partei, dann vermutlich unter einem neuen Ministerpräsidentenkandidaten, ihre Stimme geben oder aber für einen wenig wahrscheinlichen politischen Wechsel stimmen wird. Ungeachtet zahlreicher journalistischer und wissenschaftlicher Prognosen, die meinen, im „Land der Beständigkeit“ Japan einen mutmaßlich aufkeimenden politischen und gesellschaftlichen Wandel konstatieren zu können, scheint „Keine Experimente!“ auch dann ein weiteres Mal die Losung der Stunde zu werden.