Haben Sie nicht vielleicht auch den Eindruck, als sei das Jahr 2014, wenn auch noch wenige Wochen verbleiben, besonders schnell vergangen? Fast kommt es mir vor, als habe ich erst „gestern“ von der Wahl eines „Schriftzeichen des Jahres“ (kotoshi no kanji 今年の漢字) – da aber für das Jahr 2013 – als verkürzte Bilanz eines Jahreslaufs und den Modus seiner Auswahl berichtet. Heute wurde nun bereits das für das Jahr 2014 repräsentative Schriftzeichen gekürt. Es ist das 20. seiner Art. Die Wahl fiel auf das Schriftzeichen 税 mit den Lesungen zei - sei / mitsugi sowie der Bedeutung „Steuer“. Vor allem die Erhöhung (zôzei 増税) der Verbrauchssteuer (shôhi-zei 消費税) zum 1. April diesen Jahres, übrigens erstmals seit 1997, von 5% auf 8%, aber auch die Verschiebung einer ursprünglich für den 1. Oktober 2015 geplanten zweiten Anhebung auf 10% führten zum Votum für dieses Schriftzeichen. Die Anhebung der Verbrauchssteuer stelle durch eine Verteuerung von Waren des täglichen Bedarfs, der Transportkosten (für Taxis, Bahnen und Busse) und der Gebühren öffentlicher Versorgungsunternehmen für Strom, Gas und Wasser eine Belastung für die Haushaltsführung dar und habe dadurch einen großen Einfluß auf die Lebensweise der Japanerinnen und Japaner erlangt. Damit verwies es die Schriftzeichen netsu / atsu[i] – hate[ru] – iki[ru] – hotobori 熱 (= Hitze, auch Eifer bzw. Enthusiasmus) und kyo / fu{ku] – ha[ku] – uso 嘘 (= Lüge) auf den zweiten bzw. dritten Platz.
Das „Schriftzeichen des Jahres“ 2014 wurde von der „Japanische Gesellschaft zur Überprüfung der kanji–Fähigkeit“ (Nihon kanji nôryoku kentei kyôkai 日本漢字能力検定協会) zwischen dem 1. November und 5. Dezember 2014 eingeworben. Vorschläge konnten per Post abgegeben oder landesweit in etwa 200 Einrichtungen (Buchhandlungen, Bibliotheken etc.) in „Bewerbungsboxen“ (ôbobako 応募箱) eingeworfen werden. Von den insgesamt abgebenen 167.613 Stimmen entfielen auf den diesjährigen Sieger 8679. Im vergangenen Jahr waren dies 9518 von insgesamt 170.290 Stimmen. Unter den Einzeleinsendungen werden 100 Preise ausgelobt, wobei man dabei nicht wirklich reich werden kann. Es werden unter den abgegebenen Stimmen 5 Büchergutscheine im Wert von 10.000 Yen (= ca. 70 Euro), 10 im Wert von 5.000 Yen (= ca. 35 Euro), 25 im Wert von 500 Yen (= ca. 3,50 Euro) und 60 Radiergummis in einer Sonderausgabe der Gesellschaft verlost. Eine Stimmabgabe in Gruppenarbeit – etwa durch Klassenverbände, Familien oder Vereinigungen – war ebenfalls möglich. Hier waren 3000 Radiergummis zu gewinnen. Einer statistischen Erhebung der Gesellschaft zufolge wurden bisher durchschnittlich 50% dieses Stimmenanteils als Ergebnis des Japanischunterrichts in Schulen, 12 % durch die freiwillige Beteiligung von Schulklassen bzw. Schülergruppen, 18 % als Resultat einer Hausaufgabe und 20% durch Familien eingereicht.
Wie jedes Jahr am 12. Dezember, dem von der Gesellschaft proklamierten „Tag des chinesischen Schriftzeichens“ (kanji no hi 漢字の日), fand auch heute wieder am Kiyomizu-dera (清水寺), einem der großen buddhistischen Tempel Kyôtos, die Zeremonie statt, mit der die diesjährige Wahl bekanntgegeben wurde. Dazu kalligraphierte in guter, alter Tradition neuerlich der Vorstand (kansu / kanju 貫主) des Tempels, Mori Seihan 森清範, großflächig die Auswahl des Jahres.
Die Kür eines „Schriftzeichens des Jahres“ reiht sich in eine Reihe von Erhebungen am Jahresende zu Aspekten der japanischen Sprache ein. Am 1. Dezember erst wurde das „Modewort“ des Jahres 2014 (U‑CAN shingo・ryûkôgo ユーキャン新語・流行語) proklamiert. Hier gewann das weibliche Comedian-Duo Hashimoto Koyuki 橋本小雪 und Nakano Sôko 中野聡子, die gemeinsam unter dem Namen Nippon Elekitel Rengô 日本エレキテル連合 auftreten, mit ihrem „dame yo ~ dame dame“ 「ダメよ~ダメダメ」, etwa mit der Bedeutung „Das geht gar nicht!“. An zweiter Stelle stand das von der gegenwärtigen Regierung beanspruchte und innenpolitisch höchst umstrittene „Recht zur kollektiven Selbstverteidigung“ (shûdanteki jieiken 集団的自衛権), mit dem sich der Charakter der japanischen Friedensverfassung mit ihrem Kriegverbot wohl nachhaltig ändern wird. Während schon am Folgetag die Comedians den Preis entgegennehmen konnten, wurde er seitens der Regierung abgelehnt. Diese wohl tatsächlich zufällige Vorlage in der Auswahl der siegreichen Modewörter und ihrer Reihenfolge blieb seitens der japanischen Opposition nicht ungenutzt. Die Oberhausabgeordnete Fukushima Mizuho 福島みずほ[ 瑞穂], von 2003 bis 2013 Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei (Shakai minshu-tô 社会民主党), verbreitete umgehend auf ihrem Twitteraccount einen dazu passenden Tweet:
今年の流行語大賞に、「ダメよ〜ダメダメ」「集団的自衛権」。これを合わせて「ダメよ〜ダメダメ、集団的自衛権」。どう考えてもダメです。ダメなものはダメ。
„Das geht gar nicht“ und „Recht auf kollektive Sebstverteidigung“ als Modewörter dieses Jahres. Zusammen: „Das geht gar nicht, das Recht auf kollektive Selbstverteidigung“. Wie man es auch dreht, geht das nicht. Was nicht geht, geht nicht.
Das 20. Jubiläum des „Schriftzeichen des Jahres“ bietet den Anlaß für eine weitere Aktion. Grundschüler haben noch bis zum 12. Dezember 2014 die Gelegenheit, ihren Vorschlag für ein chinesisches „Schriftzeichen der Zukunft“ (mirai no kanji 未来の漢字) einzureichen. Man darf gespannt sein, mit welchem kanji, das am 26. Dezember bekanntgegeben werden wird, sich die Hoffnungen der jungen Generation mehrheitlich verbinden werden.