Neben der Berichterstattung über eine Vielzahl verheerender Naturereignisse in Japan dürfte 2019 als das Jahr in der kollektiven Erinnerung bleiben, in dem nach über 200 Jahren wieder ein japanischer Kaiser abdankte und der Thron ohne den vorhergehenden Tod eines Monarchen auf den Thronerben überging. Zahlreiche Zeremonien läuteten dieses Thronwechsel nicht nur ein, sondern flankierten ihn bis zum heutigen Tag. Es überrascht deshalb nicht, daß dieser als Prozess zu verstehende Thronwechsel auch die Aufmerksamkeit deutschsprachiger Medien auf sich zog. Weiterlesen
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Das Ende einer Ära
Am 22. Tag des 3. Monats im 14. Jahr Bunka [am 7. Mai 1817] dankte mit dem Kôkaku Tennô 光格天皇 (1771–1840, 119. Tennô von 1780 bis 1817) der seitdem letzte Tennô zugunsten seines Sohnes ab. 1779 war er von seinem entfernten Verwandten, dem Go-Momozono Tennô 後桃園天皇 (1758–1779, 118. Tennô von 1771–1779), auf Fingerzeig von dessen Tante, der letzten (abgedankten) und 10. weiblichen Tennô in der bisherigen Geschichte Japans, der Go-Sakuramachi Tennô 後桜町天皇 (1740–1813, 117. Tennô von 1762–71), unmittelbar vor dessen Tod adoptiert worden. Seine Nachfolger verstarben alle im Amt. Die gegenwärtige kaiserliche Familie leitet sich in direkter Linie vom Kôkaku Tennô ab. Nach dem Eintritt Japans in die Moderne in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war mit den Kaiserlichen Hausgesetzen von 1889 und 1947 (kôshitsu tenpan 皇室典範), die neben dem Status und der Zusammensetzung der Kaiserlichen Familie auch Fragen der Thronfolge regeln, die Abdankung eines Tennô nicht mehr vorgesehen. Nun vollzieht sich in Japan nach 202 Jahren jedoch wieder eine Zeitenwende. Am 30. April 2019 dankte der gegenwärtige Tennô ab und überläßt den Thron seinem Sohn, dem Kronprinzen ab dem 1. Mai 2019. Möglich macht dies ein Gesetz, das von der japanischen Regierung ausschließlich für diesen einen Fall erstellt und von beiden Häusern des japanischen Parlamentes verabschiedet wurde, um dem gegenwärtigen, inzwischen 85-jährigen Monarchen einen Rückzug vom Amt zu ermöglichen. Damit endet seine Herrschaftszeit mit ihrer Regierungsdevise Heisei – 平成 – „Friede überall“ in ihrem 31. Jahr am 30. April 2019 um 24 Uhr. Weiterlesen
Ein trüber Tag im Januar 1989
Der 7. Januar 1989 war im Großraum Tôkyô der Erinnerung nach ein trüber Tag. Die Wolkendecke schien einfach nicht aufreißen zu wollen. Ein deutscher Schüler an einer der renommierten Schulen der Hauptstadt für japanische Sprache hatte eine unruhige Nacht verbracht und war für seine Verhältnisse sehr früh wach. Nach neun Monaten in Japan galt es, sich langsam und nur widerwillig auf die für März bevorstehende Heimreise vorzubereiten. Die morgendliche Kälte, die unter der schlecht isolierten Balkontür in sein Ein-Zimmer-Appartment in der Peripherie Tôkyôs zog, ließ sich mit einem kleinen elektrischen Ofen nur unvollkommen bekämpfen. Noch während er leicht fröstelnd darauf wartete, daß im Kessel auf dem Gasherd endlich das Wasser die erforderliche Betriebstemperatur für den, die Lebensgeister erweckenden Kaffee erreichte, stellte er zur Ablenkung den kleinen Fernseher an, der ihm von seinem Vermieter „zur Verbesserung des Hörverständnisses“ überlassen worden war. Hingen die Gedanken auch zunächst noch an der für den Abend des Tages vorgesehenen Verabredung mit Freunden, um eine der großen Diskotheken Roppongis zu besuchen, war er schnell von dem gefangen, was er im öffentlich-rechtlichen Fernsehen Japans in dieser morgendlichen Stunde zu hören bekam. In Abweichung vom vorgesehenen Programm fand er sich in einer Sondersendung, in der der Nachrichtensprecher mit sehr ernster Miene von jüngsten Entwicklungen im Kaiserpalast berichtete. Schon in den frühen Morgenstunden seien zahlreiche Fahrzeuge des Kaiserlichen Haushalts mit Angehörigen der Kaiserfamilie und Regierungslimousinen, mutmaßlich mit dem Ministerpräsidenten und weiterer hoher Repräsentanten des offiziellen Japan an Bord, in das Areal des Kaiserpalastes eingefahren. Dann wurde plötzlich in den Presseraum des Kaiserlichen Haushaltsamtes (kunaichô 宮内庁) geschaltet, in dem sich der Amtsleiter Fujimori Shôichi 藤森昭一 (1926–2016) vorbereitete, eine Erklärung abzugeben. Er überbrachte, hinsichtlich der Wortwahl und der grammatischen Konstruktion der Verlautbarung auf dem höchsten Niveau, das die japanische Höflichkeitssprache zu bieten hat, eine Nachricht, die das gesamte gesellschaftliche Leben Japans in den nächsten Wochen beherrschen sollte. Gerade erst, am frühen Morgen des 7. Januar 1989, um 6:33 Uhr, sei der Tennô verstorben. Weiterlesen
Vor einiger Zeit habe ich für die Festschrift von Herrn Prof. Dr. Wolfgang Seifert (Universität Heidelberg) anläßlich seiner Pensionierung einen Text zur „Jesus in Japan“-Tradition im Kontext des Shintô-Nationalismus verfaßt, der nun erschienen ist. Die Grundlage für dieses Manuskript bildeten erste Ergebnisse meiner Forschung zu den sogenannten „Takeuchi-Dokumenten“ (Takeuchi monjo 竹内文書) als einem von Takeuchi Kiyomaro 竹内巨麿 (1874/5(?)-1965) am Übergang der Taishô- zur Shôwa-Zeit, also in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre, präsentierten Korpus von Texten und Artefakten. Einer der Kerninhalte dieses Korpus begründete eine „Jesus in Japan“-Tradition, nach der Jesus Christus nicht etwa am Kreuz starb, sondern vor der Hinrichtung nach Japan flüchtete und sich im Norden des Landes, in der heutigen Präfektur Aomori 青森県, ansiedelte. Im März 2014 hatte ich die Gelegenheit, das angebliche „Grab Christi“ (Kirisuto no haka キリストの墓) im Dorf Shingô 新郷 zu besuchen. Über diese Reise, deren Motivation und Hintergründe habe ich schon an anderer Stelle berichtet. In dem nun publizierten Text untersuche ich die „Takeuchi-Dokumente“ im Kontext der Biographie ihres „Entdeckers“ vor dem Hintergrund der Geschichte Japans in der Moderne und gehe den Wurzeln jener „Jesus in Japan“-Tradition als einem der Kernelemente des Textkorpus nach. Die Inhalte dieser Dokumente, mit denen die „Reichsgeschichte“ Japans seit der Ur- und Frühgeschichte zu einer „Weltgeschichte“ überhöht wird, sind so reichhaltig, daß ich sie in zukünftigen Publikationen weiter analysieren werde. Jetzt erschienen ist:
★ Sprotte, Maik Hendrik (2015): „Christus kam nur bis Japan. Takeuchi Kiyomaro (1874—1965) und seine ‚Universalisierung‘ des Shintô.“ In: Zachmann, Urs Matthias/ Uhl, Christian (Hg.): Japan und das Problem der Moderne. Wolfgang Seifert zu Ehren. München: Iudicium, S. 376—393.
Einleitung
Erschrecken Sie bitte nicht. Ich habe nicht die Absicht, mich in diesem Beitrag jener Frage des Gretchens zuzuwenden, die Goethe im „Faust“ dieser in den Mund legte: „Nun sag, wie hast du’s mit der Religion?“ Privates darf privat bleiben; Glaubensfragen werden nur am Rande berührt – zumindest soweit sie meine persönlichen religiösen Überzeugungen betreffen. Ein Glaubensbekenntnis möchte ich weder abgeben noch verlangen. Meine Absicht ist es vielmehr nur, von einer Reise zu berichten, die mich schon vor mehreren Monaten, Anfang März 2014, in den Norden Japans, in das Dorf Shingô 新郷 im Süden der Präfektur Aomori 青森県, auf den Spuren einer japanischen Jesus-Legende zu einem Grab führte, das angeblich das „Grab Christi“ (Kirisuto no haka キリストの墓) sein soll. Dieses Grab steht dennoch nicht etwa in einem christlichen Kontext, sondern sollte bei seiner „Entdeckung“ im Jahr 1935 Glaubensinhalte einer neuen, in Shintô-Tradition stehenden Religion (shintô-kei shin-shûkyô 神道系新宗教) stützen, deren Exegese dazu veranlaßt, diese Religion in einer Kombination aus religions- und politikwissenschaftlicher Analyse unter dem Dach des religiösen Nationalismus, hier des Shintô-Nationalismus, zu verorten. Weiterlesen
Ich denke, es gehört zu den praktischen Erfahrungen eines jeden wissenschaftlich Arbeitenden, daß man im Fertigstellungsprozeß eines Projektes – von der ersten Idee bis zur Vorlage eines abgeschlossenen Manuskripts – Stimmungsschwankungen, von relativer Verzweiflung bis hin zu nahezu euphorischen Zuständen, durchlebt. Dies gilt sicher allemal dann, wenn man diese Form der Arbeit mehr als Vergnügen denn als leidige Pflicht versteht.
So ging es mir dann auch bei der Arbeit an einem Text zu den sogenannten „Takeuchi-Dokumenten“ (Takeuchi monjo 竹内文書, auch Take(no)uchi bunken 竹内文献), auf die ich anfangs tatsächlich erstmals durch die Lektüre eines japanischen Kriminalromans, der „Legende von Liebe und Tod“ (Ai to shi no densetsu 愛と死の伝説) von Nishimura Kyôtarô 西村京太郎, aufmerksam wurde. Diese inzwischen nur noch teilweise und dann ausschließlich in Abschriften vorliegenden Dokumente bilden den zentralen Textkorpus einer japanischen sogenannten „neuen Religion“ (shin-shûkyô 新宗教), der „Religion des Himmels“ (amatsu-kyô 天津教), die in der Tradition der autochthonen Religion Japans, des Shintô 神道, steht. Da in absehbarer Zeit dazu ein wissenschaftlicher Aufsatz von mir vorliegen dürfte und zudem gegenwärtig ein englischsprachiges Manuskript zu dieser im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert entstandenen Spielart im Kontext des japanischen Nationalismus von mir vorbereitet wird, will ich mich auf diese Einordnung beschränken. Weiterlesen
Am Nachmittag des 06. Juni ist in einem Tokyoter Krankenhaus Prinz Tomohito (Tomohito-shinnô 寛仁親王), der präsumtive Erbe des Prinzentitels Mikasa 三笠, im Alter von 66 Jahren verstorben. Als Sohn des jüngsten Bruders des Shôwa Tennô 昭和天皇 (1901–1989), des Prinzen Mikasa Takahito (Mikasa no miya Takahito-shinnô 三笠宮崇仁親王, geb. 1915), war er ein Cousin des gegenwärtigen Tennô. Er verstarb nach seiner 16. Krebsoperation seit 1991.
Der wegen seines Bartes in Japan freundlich als „bärtige Hoheit“ (hige no denka ヒゲの殿下) bezeichnete Prinz Tomohito erregte vor allem außerhalb Japans mediale Aufmerksamkeit, als er sich als Angehöriger des Kaiserhauses 2005 und 2006 überraschend deutlich gegen eine zur damaligen Zeit diskutierte Änderung des „Gesetzes für das Kaiserhaus“ (kôshitsu tenpan 皇室典範), mit der eine weibliche Thronfolge in Japan ermöglicht werden sollte, wandte. Weiterlesen