Zweifelsohne gehören die buddhistischen Heiligtümer Naras zu den beliebtesten Zielen japanischer wie ausländischer Touristen. Ganz oben auf der Liste der Tempel, die gerne besucht werden, dürfte der Tôdai-ji (東大寺) stehen. In seiner Haupthalle steht die über 16 Meter hohe Statue des Buddha Vairocana aus dem 8. nachchristlichen Jahrhundert. Aber auch eines der Nebengebäude, die „Halle der Lotus-Sutra“ (Hokke-dô 法華堂), auch: die „Halle des dritten Monats“ (San-gatsu-dô 三月堂) als ältester Teil des Tempels mit seinem Verweis in der Namensgebung auf den Monat, der nach dem „alten [Lunisolar-] Kalender“ (kyûreki 旧暦) besonders der Rezitation der Lotus-Sutra gewidmet ist, beherbergt eine besondere Sehenswürdigkeit: die Amoghapasa-Statue (fukû kenjaku Kannon ritsuzô 不空羂索観音立像), ebenfalls aus dem 8. Jahrhundert, der wie so vielen anderen religiösen Kunstgegenständen im Besitz des Tôdai-ji der Status eines „nationalen Schatzes“ (kokuhô 国宝) verliehen wurde. Dargestellt ist eine 8‑armige Manifestation des weiblichen Boddhisattva des Mitgefühls, der Kannon, die in ihrer ursprünglich männlichen Erscheinung [in Indien] als Avalokiteshvara zu den zentralen Protagonisten der Lotus-Sutra – als eines der zentralen Texte des Mahayana-Buddhismus – gehört. Mit ihrem zweiten Armpaar [von unten] hält sie ein Seil, auf das schon der Begriff kenjaku 羂索 im Namen der Statue verweist und mit dem die Kannon allen Lebewesen Beistand, Hilfe und Führung anbietet.
Im Herbst des vergangenen Jahres berichteten nahezu alle führenden Tageszeitungen Japans von überraschenden Erkenntnissen, die sich durch eine eingehende Untersuchung des Diadems (hôkan 宝冠) dieser Kannon-Statue durch einen Materialkundler und eine Glasexpertin ergeben hatten. Die Statue selbst mit einer Höhe von etwa 3,6 Metern war in das Museum des Tôdai-ji überführt worden, um eine Restaurierung ihrer Basis zu ermöglichen. Bei dieser Gelegenheit hatte man auch das Diadem entfernt, um es zu reinigen und möglichst an sein ursprüngliches Aussehen anzunähern.
Das Diadem hat eine Höhe von 88 cm und ein Gewicht von etwa 11 kg. Ging man auch bisher davon aus, daß das Diadem aus mehr als 20.000 Einzelteilen besteht, wurde im Zuge der Restaurierungsarbeiten die Zahl der Perlen, Glasstücke und Schmucksteine auf etwa 15.000 korrigiert. Durch eine materialkundliche Untersuchung des Diadems mit Röntgen- und Laserstrahlen durch Nakai Izumi (中井泉), Professor für Materialkunde und Analytische Chemie an der Tokyo University of Science (東京理科大学), und Inoue Akiko (井上暁子), Lehrbeauftragte für Glaskunde an der Tôkai Universität, trat nun zutage, daß dieses Kunstwerk wohl zu 60% aus Glasperlen (garasu-dama ガラス玉) besteht, die in der Mitte der Nara-Zeit (710 – 794), also zeitnah zur Entstehung der gesamten Statue, hergestellt wurden. Ebenso bestehen allerdings auch etwa 30% des Glasschmucks aus Materialien, die den selben Stoffen entsprechen, wie sie die in der Jômon- (ca. 300 v. Chr. – 300 n. Chr.) und Kofun-Zeit (250 – Ende des 6. Jh.) aus Indien importierten Glasteile enthalten. Es sei folglich davon auszugehen, daß zum Zeitpunkt der Vearbeitung einige Glasteile bereits ein Alter von bis zu 1000 Jahren hatten und erneut Handelsbeziehungen mit dem asiatischen Festland im japanischen Altertum dokumentieren. Weitere 10% des Diadems bestehen darüber hinaus aus Schmucksteinen wie Koralle (sango 珊瑚), Jade (hisui 翡翠), Bernstein (kohaku 琥珀), Perlen (shinju 真珠) und Türkisen (toruko-ishi トルコ石).
Es ist unbekannt, wer die Glasperlen und Schmucksteine zur Herstellung des Diadems in der Mitte des 8. Jahrhunderts zur Verfügung stellte. Angesichts ihres auch zeitgenössisch hohen Wertes ist aber von einer besonders herausgehobenen gesellschaftlichen Stellung des Spenders oder der Spenderin auszugehen. Mit der Bereitstellung dieses Schatzes (o‑takara お宝), der über viele Generationen angesammelt worden sein dürfte, dürfte die Hoffnung verbunden gewesen sein, sich durch die kostbare Ausstattung der Kannon-Statue besondere Verdienste zu erwerben und sich der besonderen Gnade der Kannon zu versichern. Abschließend sei erwähnt, daß die Dekoration des Diadems durch eine weitere, 24 cm hohe, aus Silber gefertigte Kannon-Statue an der Stirnseite als sogenannter kabutsu (化仏), der auf den Erwerb der Buddhaschaft seines Trägers verweist, abgerundet wird.
Am 25. Januar wurde die Amoghapasa-Statue mit großem logistischen Aufwand wieder in der „Halle der Lotus-Sutra“ aufgestellt. Noch im März sollen die anderen Kunstgegenstände folgen. Voraussichtlich ab Mitte Mai 2013 wird nach dem Abschluß der Restaurierungsarbeiten an Gebäude und Kunstwerken dieser Teil des Tôdai-ji dann wieder für die Öffentlichkeit zugänglich sein.
(*) Bildernachweis: Das Bild Nr. 1 ist eine Montage zweier Fotografien aus: (1) Imperial Japanese Commission to the Panama-Pacific International Exposition (1915): Japanese Temples and their Treasures, Tôkyô: The Shimbi Shoin (Gesamtansicht) & (2) Tôyô bijutsu kenkyûkai (1933): Nihon bijutsu-shi. Band 4, Nara: Asukaen (Detailaufnahme des Kopfes), die ihrerseits wegen des Ablaufs des japanischen Copyrights Public Domain sind. Die Bilder Nr. 2 und Nr. 3 werden auf meine Anfrage hin mit freundlicher Genehmigung der Verwaltung des Tôdai-ji (東大寺寺務所) veröffentlicht.
Nachtrag (19. Mai 2013): Wie die Tageszeitung Yomiuri shinbun (読売新聞) in ihrer Online-Ausgabe berichtet, wurde die „Halle des dritten Monats“ am 18. Mai wieder für den Besucherverkehr geöffnet. Die Restaurierungen seien abgeschlossen.