Verursachen Anglizismen seelische Qualen?

Er ken­ne kein ande­res Land der Erde, in dem man so respekt­los mit der eige­nen Spra­che umge­he. Mit die­ser Ein­schät­zung wur­de Bun­des­ver­kehrs­mi­nis­ter Ram­sau­er (CSU) bereits im Jahr 2010 zitiert, als er in sei­nem Res­sort den Angli­zis­men in der deut­schen Spra­che den Kampf ansag­te. Ein „Flip­chart“ sei­nes Hau­ses wur­de so offen­bar wie­der zum „Tafel­schreib­block“, ein „Mee­ting“ zu einer „Bespre­chung“ und  ein „Lap­top“ zum „Klapp­rech­ner“. Da bekannt­lich nur der ste­te Trop­fen den Stein höhlt, dau­er­te es noch drei Jah­re, bis auch die Deut­sche Bahn 2013 erklär­te, nun­mehr die­sem Vor­bild fol­gen zu wol­len, in dem man zur Pfle­ge der deut­schen Spra­che künf­tig Angli­zis­men – soweit mög­lich – ver­mei­den wol­le. Wenn es dann auch bedau­er­lich scheint, statt auf den für „kiss & ride“ vor­ge­se­he­nen Park­plät­zen doch mög­li­cher­wei­se zukünf­tig nur wie­der in der „Kurz­zeit­park­zo­ne“ Abschied neh­men zu kön­nen, mag die­ses Vor­ge­hen begrenzt die Kom­mu­ni­ka­ti­on in der Gesell­schaft über die Gene­ra­tio­nen­gren­zen hin­weg erleich­tern. Dem Bun­des­mi­nis­ter sei den­noch eine Rei­se nach Japan emp­foh­len, denn so könn­te er jen­seits sei­ner auf den natio­na­len Bereich beschränk­ten Sicht­wei­se viel­leicht ein wei­te­res „Land der Erde“ ken­nen­ler­nen, in dem er sprach­lich Begeis­ter­te tref­fen könn­te, die sei­ne Ansich­ten hin­sicht­lich der Respekt­lo­sig­keit des sprach­li­chen Umgangs nahe­zu deckungs­gleich zu tei­len schei­nen und glei­cher­ma­ßen die sprach­li­che Ent­wick­lung ihres Lan­des kritisieren.

Im Som­mer 2013 war bei­spiels­wei­se auch für den 71-jährigen Taka­ha­shi Hôji 高橋鵬二 eine Gren­ze über­schrit­ten. Als Ver­ant­wort­li­cher eines „Ver­eins, der die japa­ni­sche Spra­che hoch­schätzt“ (Nihon­go o tai­setsu ni suru kai 日本語を大切にする会) reich­te der in der Stadt Kani in der Prä­fek­tur Gifu 岐阜県可児市 ansäs­si­ge ehe­ma­li­ge Beam­te über sei­nen Anwalt eine Scha­den­er­satz­kla­ge beim Land­ge­richt Nago­ya (Nago­ya chi­sai 名古屋地裁) gegen die öffentlich-rechtliche Sen­de­an­stalt NHK (Nihon hôsô kyô­kai 日本放送協会) ein. Anlaß sei­ner Kla­ge waren „see­li­sche Qua­len“ (seishin-teki kutsû 精神的苦痛), die durch den über­mä­ßi­gen Gebrauch von Lehn­wör­tern, vor­nehm­lich eng­li­scher Pro­ve­ni­enz, in Sen­dun­gen des öffent­li­chen recht­li­chen Fern­se­hens ver­ur­sacht wor­den sein sol­len. Inhalt­lich wand­te er sich gegen den „wider­recht­li­chen Gebrauch“ von Lehn­wör­tern in Fern­seh­sen­dun­gen, selbst dann, wenn die­ser völ­lig unnö­tig sei. Mögen jun­ge Men­schen auch die­se Fremd­wör­ter ver­ste­hen, könn­te eine älte­re Per­son Begrif­fe wie etwa アスリート (asurî­to, = ath­le­te, = Ath­let) oder コンプライアンス (kon­pur­ai­an­su, = com­pli­ance, = Ein­wil­li­gung, Kon­for­mi­tät, Über­ein­stim­mung, Ord­nungs­mä­ßig­keit) inhalt­lich nicht erfas­sen. Der über­mä­ßi­ge Gebrauch von Fremd­spra­chen füh­re bei Per­so­nen, die die­sem gegen­über ein Unwohl­sein emp­fän­den, zu unnö­ti­gen see­li­schen Qua­len und stel­le somit ein „Delikt“ (fuhô kôi 不法行為) gemäß § 709 des japa­ni­schen Bür­ger­li­chen Gesetz­bu­ches (min­pô dai-709-jô 民法第709条) dar. Gera­de ein öffentlich-rechtlicher Sen­der wie NHK sei aber zu einer all­seits ver­ständ­li­chen Aus­drucks­wei­se ver­pflich­tet. Nach­dem die Beant­wor­tung eines Schrei­bens zum Gebrauch von Lehn­wör­tern durch NHK nicht erfolgt sei, habe sich Taka­ha­shi zur Kla­ge ver­an­laßt gesehen.

Mit einer Scha­den­er­satz­for­de­rung in Höhe von 1.410.000 Yen (ca. 10.450 Euro) stell­te Taka­ha­shi inso­fern eine gewis­se Medi­en­wirk­sam­keit her, als sich in Japan ein Land­ge­richt erst ab einer Scha­den­er­satz­for­de­rung, die eine Höhe von 1.400.000 Yen über­schrei­te, mit einer Kla­ge befas­se – so die japa­ni­sche Bericht­erstat­tung. Die­se Unter­gren­ze habe er bewußt mit einer um genau 10.000 Yen erhöh­ten For­de­rung überschritten.

Die Grund­la­ge der Kla­ge Taka­hash­is bil­den recht­lich die ver­gleichs­wei­se weit­ge­faß­ten Bestim­mun­gen des § 709 des Bür­ger­li­chen Gesetz­bu­ches Japans, in dem es in japa­ni­scher Spra­che und in ver­gleichs­wei­se frei­er Über­set­zung heißt:

  • 故意又は過失によって他人の権利又は法律上保護される利益を侵害した者は、これによって生じた損害を賠償する責任を負う。(Koi mata wa kas­hitsu ni yot­te tanin no ken­ri mata wa hôritsu-jô hogo sareru rie­ki o shin­gai shi­ta mono wa, kore ni yot­te shô­ji­ta songai o bais­hô suru seki­nin o ou.)
  • Wer vor­sätz­lich oder fahr­läs­sig Rech­te oder recht­lich geschütz­te Inter­es­sen eines ande­ren ver­letzt, ist zum Ersatz des dar­aus ent­stan­de­nen Scha­dens verpflichtet.

Bis­her fan­den zwei Anhö­run­gen vor dem Land­ge­richt – Ende August und Ende Okto­ber – statt. Eine Ent­schei­dung in der Sache steht noch aus. Mit sei­ner Kla­ge greift Taka­ha­shi Bemü­hun­gen des „Natio­nal Insti­tu­te for Japa­ne­se Lan­guage and Lin­gu­i­stics“ (Koku­rit­su koku­go kenkyû-jo 国立国語研究所) auf, das 2002 mit der Grün­dung einer „Lehnwörter“-Kommission (「gai­rai­go」 iin­kai 「外来語」委員会) auf die zuneh­men­de Ver­wen­dung von Lehn­wör­tern in der japa­ni­schen Spra­che zu reagie­ren ver­such­te. Wenn­gleich die­se Lehn­wör­ter gele­gent­lich auch die japa­ni­sche Spra­che noch rei­cher mach­ten, soweit sie bis­her in Japan nicht vor­han­de­ne Din­ge oder Gedan­ken aus­drück­ten, stö­re deren leicht­sin­ni­ge und viel­fäl­ti­ge Nut­zung gleich­wohl den kom­mu­ni­ka­ti­ven Aus­tausch. Zweck die­ser Kom­mis­si­on, der neben Sprach­wis­sen­schaft­lern auch Schrift­stel­ler ange­hör­ten, war es somit, für eini­ge aus­ge­wähl­te Begrif­fe Alter­na­ti­ven zu prä­sen­tie­ren, die bereits in der japa­ni­schen Spra­che exis­tier­ten. 2003, 2004 und 2006 leg­te die Kom­mis­si­on vier Lis­ten mit ins­ge­samt 176 Lehn­wör­tern vor, deren Umschrei­bung in der japa­ni­schen Spra­che den Kom­mis­si­ons­mit­glie­dern mög­lich und wün­schens­wert schien. Infor­ma­tio­nen, ob die­ses Pro­jekt in den Fol­ge­jah­ren auf­ge­ge­ben wur­de, mit­hin also der Kampf gegen Lehn­wör­ter in der sich schnell ver­än­dern­den japa­ni­schen Spra­che ver­lo­ren gege­ge­ben wur­de, oder aber nur ruht, waren nicht zu fin­den. Nach 2006 ist jeden­falls kei­ne wei­te­re Wort­lis­te mehr ver­öf­fent­licht wor­den. Für die Japa­nisch­kun­di­gen sei­en hier eini­ge weni­ge Bei­spie­le aus der Vor­schlags­lis­te der Kom­mis­si­on exem­pla­risch genannt:

Lehn­wortLesungHer­kunftAlter­na­ti­ve Ausdrücke
アーカイブâkai­buarchi­ve(1) 保存記録
(2) 記録保存館
außerdem:
記録, 資料, 史料, 公文書館, 文書館, 資料館, 史料館;
コンファレンスkon­fa­ren­sucon­fe­rence(1) 会議
außerdem:
検討会議, 研究会議, 症例検討会, 競技会;
バーチャルbâcha­ruvir­tu­al(1) 仮想
ハーモナイゼーションhâmo­nai­zêshonhar­mo­niza­ti­on(1) 協調
außerdem:
調整, 国際協調, 制度調和;
バイオテクノロジーbaio­te­ku­noro­jîbio­tech­no­lo­gy(1) 生命工学
außerdem:
生物工学, 生命技術;
ワークショップwâku­shop­puwork­shop(1) 研究集会
außerdem:
参加型講習会, 創作集会;

In der Bun­des­re­pu­blik „muß­ten“ wir uns in die­sem Jahr bereits durch das in sprach­li­cher Hin­sicht fast segens­reich zu nen­nen­de und gleich­wohl offen­bar rein gesetz­ge­be­risch moti­vier­te Ein­grei­fen des Land­ta­ges von Mecklenburg-Vorpommern von dem bis­her längs­ten Wort der deut­schen Spra­che ver­ab­schie­den: dem Rinderkennzeichnungs- und Rind­flei­sch­eti­ket­tie­rungs­über­wa­chungs­auf­ga­ben­über­tra­gungs­ge­setz. Nach dem Vor­bild des Bun­des­ver­kehrs­mi­nis­te­ri­ums und der Deut­schen Bahn dürf­ten die­sem Event ger­ne wei­te­re – viel­leicht dann eben­so auf die Redu­zie­rung von Angli­zis­men in der deut­schen Spra­che gerich­te­te – fol­gen, auch wenn die­se Lehn­wör­ter sicher nicht zwin­gend als kör­per­ver­let­zend zu bezeich­nen sind. Ver­bün­de­te für die­ses Vor­ha­ben fän­de man, wie das Bei­spiel Taka­ha­shi Hôjis, jenes selbst­er­nann­ten Bewah­rers des Japa­ni­schen in der japa­ni­schen Spra­che, zeigt, alle­mal auch in Japan.

(Nach­trag:) Der Pro­zeß ging für den „Ver­ein, der die japa­ni­sche Spra­che hoch­schätzt“, verloren.

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